Das Unfassbare rückt immer näher: meine Reise nach Deutschland. „Noch 100 Tage“, zählt Jan. Wie im Flug vergehen sie und plötzlich ist es soweit…
Seitdem meine Cousine und Rebeca abgereist sind, habe ich immer wieder Heimweh. Das erste Mal seit fast zwei Jahren. Ich vermisse meine Mama, meinen Bruder und all die lieben Freunde, die ich in Deutschland zurückgelassen habe. Ich stelle mir vor, wie es wäre, wieder in Deutschland zu leben: Im Supermarkt einkaufen, leckeres Essen, im Wald spazieren gehen, Nachts nicht mehr frieren… Auch auf das Studium freue ich mich nun, denn ich vermisse es, neue Dinge zu lernen.
Die Arbeit ist seit ein paar Monaten zur Routine geworden und es gibt kaum Neues mehr, was ich erkunden könnte. Ich beobachte immer häufiger, dass mir die Geduld für die pubertären Kids fehlt. Ich bin nicht mehr so entspannt wie früher und bin deutlich strenger geworden. Wenn ich nach der Arbeit auf der Terrasse sitze und das Nachbarskind schreit, platzt mir schon der Kopf. „Ich hasse Kinder nach Feierabend!“, sage ich zu Jan, der lachend neben mir sitzt.
Das Drama der Verabschiedungen geht los…
Als erstes verabschiede ich mich von meiner ehemaligen Kollegin in der Schule. Ely, ihr kleiner Sohn Sebastian und ich treffen uns in einem Kaffee. Wir schwatzen den ganzen Nachmittag. Als wir uns verabschieden, lädt mich Ely zu sich nach Hause ein für den nächsten Sonntag. So haben wir das Schmerzliche doch noch etwas herausgezögert…
Das letzte Mal Spanischunterricht verbringen Daniela und ich mit Schwatzen. Wir haben es nicht mal geschafft, meine Hausaufgaben zu kontrollieren. Meine Spanischlehrerin, Daniela, ist über die Zeit eine sehr guten Freundin geworden. Wir gehen zusammen in eines der schönsten Restaurantes von Sucre und essen gemeinsam Pizza und trinken eine Flasche Wein. Wir unterhalten uns bis spät in die Nacht. Immer wieder zögern wir den Abschied, der doch sehr schmerzt, hinaus.
Nun ist es soweit: mein letzter Arbeitstag. Am Morgen treffe ich mich mit Anita auf dem Markt und wir kaufen von Spenden, die mir von Rebeca geschickt wurden, zwei riesen Säcke voll mit Schulmaterialien, einem Mixer, Handtüchern und sonstigen Haushaltswaren ein. Als wir im Musuq antreffen, sind die Kinder noch nicht da. Maxima hat heute Küchendienst und hilft der Köchin, Dona Santurnina.
Ich spüre die Aufregung im ganzen Körper und kann nicht ruhig sitzen. Schnell besorge ich mir etwas Arbeit, um mich abzulenken. Der Nachtisch muss vorbereitet werden. Ich schäle Papayas. Schweigend tritt Maxima an meine Seite und hilft mir. Die Stille in der Küche wird durch ein leises Schluchtzen durchbrochen. Ich weiß nicht, was ich sagen soll und versuche mich auf die orangenen Früchte zu konzentrieren.
Nach dem Essen kommen schon die ersten Mamas. Cristina tritt auf mich zu: „Ist es wahr, du gehst, Profe?“ Sie schenkt mir eine Tüte geröstete Bohnen. Demetria kommt auf mich zu gelaufen: „Ich habe mir heute extra frei genommen!“ Sie fängt an zu weinen und nun kann ich meine Tränen auch nicht mehr zurückhalten. Schluchtzend halten wir uns in den Armen. „Du hast uns so sehr geholfen!“ Es rührt mich so sehr und die Tränen werden immer mehr.
Dann beginnt die Abschiedsfeier von Helena und mir. Die Kinder und die Mütter führen verschiedene Tänze auf. Am Ende jedes Tanzes holen sie uns vom Tisch und wir tanzen gemeinsam. Die Mütter ziehen sich ihre traditionellen Trachten aus Potosi an und tanzen eine typischen Tanz aus ihrer Region. Fast alle Familien sind aus dem Norden von Potosi als Landflüchtliche nach Sucre gekommen. Die Kinder haben eines meiner Lieblingslieder einstudiert und singen für uns „La Cholita de Ojos Azules (Die Indigene mit den blauen Augen)“. Ich weine die ganze Zeit und Maribel schaut mich bedrückt an.
Während der Vorstellung kommt plötzlich Beimar auf mich zu, umarmt mich und sagt leise: „Chau Profe“. Es schien, als hätte er jetzt erst verstanden, dass ich wirklich gehe.
Marina spricht im Namen der Kinder und dankt uns für die Unterstützung. Dona Alberta hält eine kurze Dankesrede und schenkt uns einen selbst gestrickten Schaal. Marina, Monica, Rosa und Giovana überreichen uns ein selbst gemachtes Plakat, auf dem sie uns danken. Lurdes drückt uns beiden einen Liebesbrief in die Hand.
Ich muss die ganze Zeit weinen, sodass es mir schwer fällt, eine kurze Rede zu halten. Außerdem gibt es keine Worte für das, was ich in diesen zwei Jahren erleben durfte.
Am Ende der Veranstaltung umarme ich jedes der 65 Kinder und all die Frauen. Die Tränen, die fließen, sind unzählbar. Nachdem schon fast alle gegangen sind, kommt Paulino. Ich freue mich so sehr, dass er sich auf der Baustelle frei nehmen konnte.
Am Abend gehen wir mit den Kolleginnen noch in der Stadt gemeinsam essen.
Am nächsten Morgen treffe ich mich mit Ludwig zum Frühstück im Condor-Café. Ludwig ist auch deutscher Freiwilliger in Sucre, aber von einer anderen Organisation. Wir haben uns erst vor kurzem auf einer Party kennengelernt und sind doch schon sehr gute Freunde geworden. Zum Glück ist es nur ein Abschied für eine kurze Zeit, denn wir haben bereits die Besuche in Frankfurt und Freiburg geplant.
Nun muss ich aber schleunigst mal mit dem Packen anfangen! Es geht viel schneller als ich dachte, aber leider ist es auch viel mehr, als ich dachte… Der Koffer ist entsetzlich schwer: 22 Kilo. Dazu kommt noch mein Rucksack mit 16 Kilo und mein Handgepäck mit ungefähr 5 Kilo. „Was hast du denn da alles drin?“, fragt mich Jan erstaunt. Ich bin auch etwas entsetzt, denn ich hatte ja meiner Cousine schon so viel Zeug mitgegeben und hatte eigentlich erwartet, ganz entspannt mit leichtem Gepäck zu reisen. Doch leider ist dem nicht so.
Plötzlich ist mein Zimmer leer. Es ist ein so komisches Gefühl: Diesmal packe ich für immer! Niemals werde ich wieder in diesem Zimmer wohnen, das wahrscheinlich schon ein Krankenhauszimmer sein wird, wenn ich eines Tages wiederkomme.
Am Freitag fahre ich nochmal nach Lajastambo. Drei Familien haben mich zu sich eingeladen. Erst gehe ich zu Zulma, der Mutter von Alejandro. Sie hat „Picante de Pollo (Hühnchen mit einem scharfen roten Gewürz)“ gekocht. Mit Zulma kann ich mich über so viele Dinge unterhalten. Es ist so schön, mit ihr zusammen zu sein. „Ich möchte mich von meinem Mann trennen und mit den Kindern nach Chile gehen. Dort kann ich als Putzfrau gutes Geld verdienen und den Kindern eine bessere Bildung ermöglichen. Wenn du zurückkommst, müssen wir uns wiedersehen.“ „Ich werde dich finden, Zulma! Sei es in Chile oder hier“, verspreche ich. Gott sei Dank hat Zulma ein internetfähiges Handy, sodass wir immer in Kontakt bleiben können. Wir merken gar nicht, wie die Zeit vergeht und immer wenn ich sage, dass ich noch zu zwei anderen Familien gehen muss, schenkt sie mir wieder das Glas mit Soda voll, sodass ich doch noch bleiben muss.
Irgendwann bringen wir es dann doch über das Herz und ich trete durch das Hofgatter hinaus auf die sandige Straße. Direkt gegenüber wohnt Juana, die Mutter von Jhenifer. Die Kinder kommen mir mit offenen Mündern entgegen gerannt. Sie können gar nicht fassen, dass ich so schnell schon wieder da bin. „Ich hatte schon Angst, du würdest nicht mehr kommen, Profe“, sagt Juana erleichtert. Wir gehen hinein in den dunklen Raum, wo drei Betten für acht Personen stehen und ein Tisch. „Vielleicht werde ich nach Camargo mit den Kindern zu meiner Mutter ziehen. Wenn du zurückkommst, musst du mich suchen, ja?“ Leider hat Juana kein Handy, aber dafür ihr ältester Sohn. Schnell schreiben wir noch die Nummern auf und ich mache mich auch schon auf den Weg. Die Kinder und vor allem Jhenifer kleben an mir und wollen mich nicht gehen lassen. Jhenifer hält meine Hand ganz fest umschlossen und jedes Mal, wenn ich sage, dass ich nun wirklich gehen muss, tut sie so, als würde sie mich nicht hören.
Nach einer Weile kann mich doch losreißen und gehe in Richtung der Avenida. Es dämmert bereits. Ein Mann kommt lächelnd auf mich zu. Ich erkenne ihn nicht gleich, doch dann sehe ich das sympathische Gesicht von Jumeys, Diegos und Gustavos Papa. Er ist neben Paulino der liebste Papa des Musuq. Er ist einer der wenigen Väter, der sich um seine Kinder sorgt und das wenige Geld, das er durch den Verkauf von Popcorn erwirtschaftet, nicht versäuft. Er hatte vor ungefähr einem Jahr einen Unfall und kann seitdem nicht mehr auf der Baustelle als Tagelöhner arbeiten. Daher bleibt ihm nichts anderes übirg als Popcorn und Chips auf der Straße zu verkaufen. Obwohl die Situation der Familie miserabel ist, hat er immer ein Lachen übrig und strahlt so etwas Positives aus. Meistens verkauft er vor dem Krankenhaus. Immer wenn ich ihn dort traf, haben wir uns unterhalten. Ich bin froh, dass ich nun zufällig treffe und wir uns noch verabschieden können.
Ich komme an meinem alten Haus vorbei. Die Tür ist verschlossen. Als ich mich ihr nähere, höre ich das mir so bekannte Bellen. Ich stecke meine Hand durch ein Loch im Gatter und Linda springt vor Freude. Leider sind die neuen Hausbesitzer nicht da und so können wir uns nicht umarmen, so wie wir es immer getan haben. Linda scheint das genauso traurig zu machen wie mich, denn ich höre sie jaulen. Ich kann ihre schwarze Nase durch das kleine Loch sehen und berühren. Ihre dunklen Augen schauen mich traurig an. Sie scheint zu verstehen, dass es nun ein Abschied für länger sein wird. Immer wieder streckt sie mir ihre Pfote entgegen.
Ich halte Lindas Jaulen, das mir das Herz zerreißt, nicht mehr aus und steige schließlich den Berg hinauf zu Maxima, wo nun ein ganzer Stadtteil mit ungefähr 100 Einwohnern entstanden ist. Als ich in Sichtweite der Häuser komme, rennen mir die Kinder mit offenen Armen entgegen. „Komm, komm!“, rufen sie und führen mich zu einem halbfertigen Haus aus Ziegeln. Plötzlich erscheint Paulinos Kopf über der ungefähr anderthalb Meter hohen Mauer. „Ich mache gerade unser neues Haus, Profe!“, sagt er strahlend. Die Kinder führen mich durch ihr neues Zuhause: „Das ist die Küche und hier ist das Schlafzimmer von unseren Eltern und schau Profe, wir bekommen sogar ein eigenes Zimmer! Dort wirst du dann mit uns wohnen, wenn du zurückkommst!“
Das Haus ist unfassbar klein und die drei Zimmerchen haben die Größe von Abstellkämmerchen. Aber es ist alle mal besser als das winzige Lehmhäuschen mit dem Wellblechdach. „Das Licht können wir mit rüber nehmen und der Bürgermeister hat versprochen, dass wir bald einen Wasserhahn für das Stadtviertel bekommen.“ Seit letzem Jahr hat das ganze Stadtviertel zum Glück Licht, da Paulino es Dank der Spenden, die ich von Deutschland erhalten habe, installieren konnte. Doch Wasser gibt es immer noch nicht. Alle zwei Wochen kommt ein LKW, der jeder Familie eine 100-Liter-Tonne füllt. Ich frage mich, ob sie überhaupt etwas trinken, denn diese 100 Liter müssen zum Waschen, Kochen, Geschirrspülen und Wäsche waschen ausreichen und sie werden nur alle zwei Wochen beliefert. Ein Wasserhahn in der Mitte des kleinen Stadtviertels wäre ein so großes Glück. Hoffenlich beeilt sich das Gouvernement.
„Lass uns rein gehen“, meint Maxima als es schon fast dunkel ist, „Paulino wird noch ein bisschen mit der Stirnlampe arbeiten.“ Wir gehen rüber zu ihrem Lehmhäuschen und Miriam kocht. Zum Abendbrot gibt es Ei mit Nudeln und Kartoffeln. Wir lachen und weinen die ganze Zeit. Wenn ich bei Maximas Familie bin, fühle ich mich so unglaublich wohl. Obwohl zwischen meinem Leben und ihrem harten Überleben Welten dazwischen liegen, verstehen wir uns so gut und sind uns dennoch so ähnlich. Sie haben mir gelehrt, dass das Einzige, was zählt, das Herz ist. Ich stelle immer wieder fest, dass ich mich so viel wohler und so viel mehr verstanden fühle von den armen Menschen aus Lajastambo als von meinen Freundeskreis aus dem Stadtzentrum.
Miriam hat riesen Freude daran, mir Quechua zu unterrichten. „Profe, ich bringe dir Quechua bei und du mir Deutsch!“, sagt Miriam und holt schon ihr Heft heraus, „wenn ich Deutsch kann, nimmst du mich mit nach Deutschland, ja?“ Immer wieder haben wir darüber gesprochen, dass ich eines Tages Miriam mitnehme. Nach langem Überlegen bin ich zu dem Entschluss gekommen, das erst in Angriff zu nehmen, wenn sie in vier Jahren ihren Schulabschluss absolviert hat. Sollte es uns tatsächlich gelingen, dass Miriam in Deutschland studieren kann, würde das den Wohlstand für die gesamte Großfamilie bedeuten. Hoffentlich werden die Visabestimmungen in den nächsten Jahren nicht noch verschärft, denn es ist jetzt schon so gut wie unmöglich, ein Bleiberecht zu bekommen. Lena, deren Papa aus Bangladesh kommt, meint zu mir traurig: „Wir haben so oft versucht, meine Cousins nach Deutschland zu holen und es hat nie geklappt.“ Wieder einmal wird uns unser unverdientes Glück bewusst, das wir mit dem europäischen Pass haben. Wir können gehen, wohin wir wollen, leben, wo auch immer es uns hinzieht. Fast jedes Land der Welt schmeißt uns das Bleiberecht regelrecht hinterher. Nach fünf Jahren, die man seinen Hauptwohnsitz in Bolivien hatte, bekommt man automatisch die bolivianische Staatsbürgerschaft.
Maxima holt eine große Flasche heraus und ich wundere mich, denn eigentlich trinken sie nicht. „Was ist das?“, frage ich verwundert. „Du wirst schon sehen…“, antwortet sie mir verschmitzt lächelnd. Sie füllt eine braune Flüssigkeit auf einen Löffel und gibt ihn mir. Neugierig probiere ich. Es ist Honig! „Den hat Paulino aus unserem Dorf im Norden von Potosi mitgebracht.“ „Sie haben mich überall gestochen“,sagt Paulino. Wir lachen die ganze Zeit und freuen uns einfach, zusammen zu sein. Die Zeit vergeht viel zu schnell und Efrain ist bereits eingeschlafen. Wir verdrängen den doch so nahen Abschied. Spät in der Nacht gibt es noch süßen Milchreis mit Brot.
Als ich mich auf den Weg mache, weinen wir wieder. Miriam, Maribel und Paulino führen mich durch die Nacht den steilen Pfad nach unten zur Straße. Es fahren bereits keine Busse mehr und ich muss im Taxi ins Stadtzentrum fahren, wo ich in der Shishabar schon erwartet werde. „Du kommst zu spät zu deiner eigenen Abschiedsparty“, sagt Jan vorwurfsvoll.
Mein Kumpel Yelson, der Besitzer der Shishabar, ist auf dem Heimweg seines Urlaubs leider nicht über die brasilianische Grenze gelassen worden und konnte daher nicht da sein. Aber all die anderen Freunde sind da und es ist eine wirklich schöne Nacht. Das Beste ist, dass es mal keinen Reggaeton gibt, sondern Techno, was schon ein kleiner Vorgeschmack auf Deutschland ist.
Es wird schon fast wieder hell, als ich mich schlafen lege. Mein letzter Tag in Sucre beginnt. Es gibt noch allerhand machen, doch obwohl ich natürlich verschlafe, reicht die Zeit doch noch aus, alles in Ruhe in Ordnung zu bringen. Nachdem ich alles fertig gepackt und sauber gemacht habe, gehe ich mich bei Frau Hochmann verabschieden. Die Gespräche mit ihr werde ich vermissen. Ich bewundere sie sehr für all das, was sie in Sucre bewegt hat. Seit über 50 Jahren leistet sie Entwicklungshilfe in Sucre.
„Du hast viel erlebt hier in den zwei Jahren. Ich glaube, dein Leben wird genauso bewegt weitergehen“, sagt sie mir zum Abschied. „Ich freue mich schon darauf, wenn du dann als Frau Doktor wiederkommst.“ „Ich glaube zwar, dass das nicht passieren wird, aber zurückkommen werde ich auf jeden Fall“, sage ich lachend.
Zum letzten Mal sitze ich abends auf der Dachterrasse und schaue der Sonne zu, wie sie zwischen den Bergen untergeht. Nach und nach gehen die orangenen Lichter der Stadt an.
Sonntag in der Frühe geht es nun los! Ziemlich aufgeregt packe ich noch die letzen Sachen ein, verabschiede mich von Jan und fahre zum Flughafen. Auf dem Weg durch die Stadt und schließlich über Land fließen mir ununterbrochen die Tränen über die Wangen. Ich kann nicht fassen, dass das nun wirklich passiert.
Ich sitze im Flughafen und warte. Es ist noch Zeit, bis ich mein Gepäck aufgeben kann. Plötzlich ruft jemand meinen Namen. Etwas erschrocken schaue ich auf. Meine ehemaligen Kolleginnen, Mery und Antonia, stehen vor mir. Welch eine große Überraschung! Wir haben uns lange nicht gesehen und schwatzend vergeht die Zeit.
Das Abschiedsgeschenk, das sie mir mitgebracht haben, stopfe ich noch in die letzte freie Ecke meines Rucksacks und es wird nun ernst.
Nur eine halbe Stunde dauert der Flug nach Santa Cruz. Wir haben gerade noch Zeit für einen Kaffee in der Luft. Die Ankunft in der Großstadt ist etwas schrecklich, denn ich bin schon nach fünf Metern mit meinem Gepäck bei dieser tropischen Hitze völlig erledigt. Aber wie immer habe ich Glück und nette Menschen helfen mir. Im Hostel angekommen, gönne ich mir erst einmal eine kalte Dusche, bevor ich mich auf den Weg in die Innenstadt mache.
Am nächsten Morgen wird es erst: Ich steige in den Flieger nach Madrid. Den elfstündigen Flug überstehe ich gut. Ich schwatze mit meiner Stiznachbarin, einer Paraguayerin, die zum ersten Mal in ihrem Leben fliegt. Sie ist auf dem Weg nach Rom.
Die Einreise in die EU verläuft zum Glück ohne Probleme, sodass ich gleich ins nächste Flugzeug mit Ziel Frankfurt einsteigen kann. Leider bekommen wir die Starterlaubnis erst zwei Stunden später, da in Frankfurt ein schlimmes Unwetter ist.
Etwas gestresst lande ich auf deutschem Boden. Mein Zug nach Dresden ist schon längst ohne mich abgefahren. ‚Naja das wird schon irgendwie‘, denke ich mir mit meiner boliviansichen Gelassenheit. Ich zerre mein Gepäck durch die Tür in die Flughafenhalle. Lena und Tassilo stürzen mit offenen Armen auf mich zu. Welch ein genialer Empfang in der Heimat! Ein Jahr haben wir uns nicht gesehen, doch alles ist wie immer. Tassilo hat bereits alles organisiert, sodass ich ohne Probleme einfach den nächsten Zug nehmen kann. Der Flughafen – ein riesen Labyrinth – ist schon eine wahnsinne Reizüberflutung für mich. „Gott sei Dank, seid ihr da“, sage ich zu Lena und Tassilo, „alleine würde ich mich hier ja gar nicht zurechtfinden!“ Tassilo mit seinem genialen Ortssinn, der uns schon so oft in Sucre vor zwei Jahren gerettet hat, führt uns von einer Rolltreppe zur nächsten, bis wir endlich an den Zuggleisen ankommen.
Tobi, den ich während des Wartens auf das Gepäck kennengelernt habe, hat sich uns angeschlossen. Er nimmt den gleichen Zug wie ich bis nach Leipzig. Wir stellen fest, dass wir die ganze Zeit ab Santa Cruz in den selben Fliegern gesessen haben. Er war auch Freiwilliger in Bolivien. Wir schwatzen die ganze Zeit und bestaunen gemeinsam die wunderschönen deutschen Wälder und Felder, die wir so sehr vermisst haben. Die vier Stunden bis nach Leipzig vergehen wie im Flug. Die letzte Stunde bin ich allein. Ich schaue aus dem Fenster und muss mir immer wieder sagen: ‚Das ist real! Das ist diesmal kein Film! Du bist wirklich hier!‘ Als wir durch Radebeul fahren, überschütten mich meine Emotionen. Die anderen Passagiere schauen mich neugierig an. Es ist nicht zu übersehen, dass ich von weit herkomme mit meinen Unmengen an Gepäck. Von weit her… aus einer anderen Welt. Ich habe das Gefühl, als wäre ich von einem anderen Planeten angereist – aus einem anderen Leben.