Hasta luego Bolivia!

Das Unfassbare rückt immer näher: meine Reise nach Deutschland. „Noch 100 Tage“, zählt Jan. Wie im Flug vergehen sie und plötzlich ist es soweit…

Seitdem meine Cousine und Rebeca abgereist sind, habe ich immer wieder Heimweh. Das erste Mal seit fast zwei Jahren. Ich vermisse meine Mama, meinen Bruder und all die lieben Freunde, die ich in Deutschland zurückgelassen habe. Ich stelle mir vor, wie es wäre, wieder in Deutschland zu leben: Im Supermarkt einkaufen, leckeres Essen, im Wald spazieren gehen, Nachts nicht mehr frieren… Auch auf das Studium freue ich mich nun, denn ich vermisse es, neue Dinge zu lernen.
Die Arbeit ist seit ein paar Monaten zur Routine geworden und es gibt kaum Neues mehr, was ich erkunden könnte. Ich beobachte immer häufiger, dass mir die Geduld für die pubertären Kids fehlt. Ich bin nicht mehr so entspannt wie früher und bin deutlich strenger geworden. Wenn ich nach der Arbeit auf der Terrasse sitze und das Nachbarskind schreit, platzt mir schon der Kopf. „Ich hasse Kinder nach Feierabend!“, sage ich zu Jan, der lachend neben mir sitzt.

Das Drama der Verabschiedungen geht los…
Als erstes verabschiede ich mich von meiner ehemaligen Kollegin in der Schule. Ely, ihr kleiner Sohn Sebastian und ich treffen uns in einem Kaffee. Wir schwatzen den ganzen Nachmittag. Als wir uns verabschieden, lädt mich Ely zu sich nach Hause ein für den nächsten Sonntag. So haben wir das Schmerzliche doch noch etwas herausgezögert…

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Das letzte Mal Spanischunterricht verbringen Daniela und ich mit Schwatzen. Wir haben es nicht mal geschafft, meine Hausaufgaben zu kontrollieren. Meine Spanischlehrerin, Daniela, ist über die Zeit eine sehr guten Freundin geworden. Wir gehen zusammen in eines der schönsten Restaurantes von Sucre und essen gemeinsam Pizza und trinken eine Flasche Wein. Wir unterhalten uns bis spät in die Nacht. Immer wieder zögern wir den Abschied, der doch sehr schmerzt, hinaus.

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Nun ist es soweit: mein letzter Arbeitstag. Am Morgen treffe ich mich mit Anita auf dem Markt und wir kaufen von Spenden, die mir von Rebeca geschickt wurden, zwei riesen Säcke voll mit Schulmaterialien, einem Mixer, Handtüchern und sonstigen Haushaltswaren ein. Als wir im Musuq antreffen, sind die Kinder noch nicht da. Maxima hat heute Küchendienst und hilft der Köchin, Dona Santurnina.
Ich spüre die Aufregung im ganzen Körper und kann nicht ruhig sitzen. Schnell besorge ich mir etwas Arbeit, um mich abzulenken. Der Nachtisch muss vorbereitet werden. Ich schäle Papayas. Schweigend tritt Maxima an meine Seite und hilft mir. Die Stille in der Küche wird durch ein leises Schluchtzen durchbrochen. Ich weiß nicht, was ich sagen soll und versuche mich auf die orangenen Früchte zu konzentrieren.
Nach dem Essen kommen schon die ersten Mamas. Cristina tritt auf mich zu: „Ist es wahr, du gehst, Profe?“ Sie schenkt mir eine Tüte geröstete Bohnen. Demetria kommt auf mich zu gelaufen: „Ich habe mir heute extra frei genommen!“ Sie fängt an zu weinen und nun kann ich meine Tränen auch nicht mehr zurückhalten. Schluchtzend halten wir uns in den Armen. „Du hast uns so sehr geholfen!“ Es rührt mich so sehr und die Tränen werden immer mehr.
Dann beginnt die Abschiedsfeier von Helena und mir. Die Kinder und die Mütter führen verschiedene Tänze auf. Am Ende jedes Tanzes holen sie uns vom Tisch und wir tanzen gemeinsam. Die Mütter ziehen sich ihre traditionellen Trachten aus Potosi an und tanzen eine typischen Tanz aus ihrer Region. Fast alle Familien sind aus dem Norden von Potosi als Landflüchtliche nach Sucre gekommen. Die Kinder haben eines meiner Lieblingslieder einstudiert und singen für uns „La Cholita de Ojos Azules (Die Indigene mit den blauen Augen)“. Ich weine die ganze Zeit und Maribel schaut mich bedrückt an.


Während der Vorstellung kommt plötzlich Beimar auf mich zu, umarmt mich und sagt leise: „Chau Profe“. Es schien, als hätte er jetzt erst verstanden, dass ich wirklich gehe.
Marina spricht im Namen der Kinder und dankt uns für die Unterstützung. Dona Alberta hält eine kurze Dankesrede und schenkt uns einen selbst gestrickten Schaal. Marina, Monica, Rosa und Giovana überreichen uns ein selbst gemachtes Plakat, auf dem sie uns danken. Lurdes drückt uns beiden einen Liebesbrief in die Hand.
Ich muss die ganze Zeit weinen, sodass es mir schwer fällt, eine kurze Rede zu halten. Außerdem gibt es keine Worte für das, was ich in diesen zwei Jahren erleben durfte.


Am Ende der Veranstaltung umarme ich jedes der 65 Kinder und all die Frauen. Die Tränen, die fließen, sind unzählbar. Nachdem schon fast alle gegangen sind, kommt Paulino. Ich freue mich so sehr, dass er sich auf der Baustelle frei nehmen konnte.

Am Abend gehen wir mit den Kolleginnen noch in der Stadt gemeinsam essen.

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Am nächsten Morgen treffe ich mich mit Ludwig zum Frühstück im Condor-Café. Ludwig ist auch deutscher Freiwilliger in Sucre, aber von einer anderen Organisation. Wir haben uns erst vor kurzem auf einer Party kennengelernt und sind doch schon sehr gute Freunde geworden. Zum Glück ist es nur ein Abschied für eine kurze Zeit, denn wir haben bereits die Besuche in Frankfurt und Freiburg geplant.

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Nun muss ich aber schleunigst mal mit dem Packen anfangen! Es geht viel schneller als ich dachte, aber leider ist es auch viel mehr, als ich dachte… Der Koffer ist entsetzlich schwer: 22 Kilo. Dazu kommt noch mein Rucksack mit 16 Kilo und mein Handgepäck mit ungefähr 5 Kilo. „Was hast du denn da alles drin?“, fragt mich Jan erstaunt. Ich bin auch etwas entsetzt, denn ich hatte ja meiner Cousine schon so viel Zeug mitgegeben und hatte eigentlich erwartet, ganz entspannt mit leichtem Gepäck zu reisen. Doch leider ist dem nicht so.
Plötzlich ist mein Zimmer leer. Es ist ein so komisches Gefühl: Diesmal packe ich für immer! Niemals werde ich wieder in diesem Zimmer wohnen, das wahrscheinlich schon ein Krankenhauszimmer sein wird, wenn ich eines Tages wiederkomme.

Am Freitag fahre ich nochmal nach Lajastambo. Drei Familien haben mich zu sich eingeladen. Erst gehe ich zu Zulma, der Mutter von Alejandro. Sie hat „Picante de Pollo (Hühnchen mit einem scharfen roten Gewürz)“ gekocht. Mit Zulma kann ich mich über so viele Dinge unterhalten. Es ist so schön, mit ihr zusammen zu sein. „Ich möchte mich von meinem Mann trennen und mit den Kindern nach Chile gehen. Dort kann ich als Putzfrau gutes Geld verdienen und den Kindern eine bessere Bildung ermöglichen. Wenn du zurückkommst, müssen wir uns wiedersehen.“ „Ich werde dich finden, Zulma! Sei es in Chile oder hier“, verspreche ich. Gott sei Dank hat Zulma ein internetfähiges Handy, sodass wir immer in Kontakt bleiben können. Wir merken gar nicht, wie die Zeit vergeht und immer wenn ich sage, dass ich noch zu zwei anderen Familien gehen muss, schenkt sie mir wieder das Glas mit Soda voll, sodass ich doch noch bleiben muss.
Irgendwann bringen wir es dann doch über das Herz und ich trete durch das Hofgatter hinaus auf die sandige Straße. Direkt gegenüber wohnt Juana, die Mutter von Jhenifer. Die Kinder kommen mir mit offenen Mündern entgegen gerannt. Sie können gar nicht fassen, dass ich so schnell schon wieder da bin. „Ich hatte schon Angst, du würdest nicht mehr kommen, Profe“, sagt Juana erleichtert. Wir gehen hinein in den dunklen Raum, wo drei Betten für acht Personen stehen und ein Tisch. „Vielleicht werde ich nach Camargo mit den Kindern zu meiner Mutter ziehen. Wenn du zurückkommst, musst du mich suchen, ja?“ Leider hat Juana kein Handy, aber dafür ihr ältester Sohn. Schnell schreiben wir noch die Nummern auf und ich mache mich auch schon auf den Weg. Die Kinder und vor allem Jhenifer kleben an mir und wollen mich nicht gehen lassen. Jhenifer hält meine Hand ganz fest umschlossen und jedes Mal, wenn ich sage, dass ich nun wirklich gehen muss, tut sie so, als würde sie mich nicht hören.
Nach einer Weile kann mich doch losreißen und gehe in Richtung der Avenida. Es dämmert bereits. Ein Mann kommt lächelnd auf mich zu. Ich erkenne ihn nicht gleich, doch dann sehe ich das sympathische Gesicht von Jumeys, Diegos und Gustavos Papa. Er ist neben Paulino der liebste Papa des Musuq. Er ist einer der wenigen Väter, der sich um seine Kinder sorgt und das wenige Geld, das er durch den Verkauf von Popcorn erwirtschaftet, nicht versäuft. Er hatte vor ungefähr einem Jahr einen Unfall und kann seitdem nicht mehr auf der Baustelle als Tagelöhner arbeiten. Daher bleibt ihm nichts anderes übirg als Popcorn und Chips auf der Straße zu verkaufen. Obwohl die Situation der Familie miserabel ist, hat er immer ein Lachen übrig und strahlt so etwas Positives aus. Meistens verkauft er vor dem Krankenhaus. Immer wenn ich ihn dort traf, haben wir uns unterhalten. Ich bin froh, dass ich nun zufällig treffe und wir uns noch verabschieden können.
Ich komme an meinem alten Haus vorbei. Die Tür ist verschlossen. Als ich mich ihr nähere, höre ich das mir so bekannte Bellen. Ich stecke meine Hand durch ein Loch im Gatter und Linda springt vor Freude. Leider sind die neuen Hausbesitzer nicht da und so können wir uns nicht umarmen, so wie wir es immer getan haben. Linda scheint das genauso traurig zu machen wie mich, denn ich höre sie jaulen. Ich kann ihre schwarze Nase durch das kleine Loch sehen und berühren. Ihre dunklen Augen schauen mich traurig an. Sie scheint zu verstehen, dass es nun ein Abschied für länger sein wird. Immer wieder streckt sie mir ihre Pfote entgegen.
Ich halte Lindas Jaulen, das mir das Herz zerreißt, nicht mehr aus und steige schließlich den Berg hinauf zu Maxima, wo nun ein ganzer Stadtteil mit ungefähr 100 Einwohnern entstanden ist. Als ich in Sichtweite der Häuser komme, rennen mir die Kinder mit offenen Armen entgegen. „Komm, komm!“, rufen sie und führen mich zu einem halbfertigen Haus aus Ziegeln. Plötzlich erscheint Paulinos Kopf über der ungefähr anderthalb Meter hohen Mauer. „Ich mache gerade unser neues Haus, Profe!“, sagt er strahlend. Die Kinder führen mich durch ihr neues Zuhause: „Das ist die Küche und hier ist das Schlafzimmer von unseren Eltern und schau Profe, wir bekommen sogar ein eigenes Zimmer! Dort wirst du dann mit uns wohnen, wenn du zurückkommst!“
Das Haus ist unfassbar klein und die drei Zimmerchen haben die Größe von Abstellkämmerchen. Aber es ist alle mal besser als das winzige Lehmhäuschen mit dem Wellblechdach. „Das Licht können wir mit rüber nehmen und der Bürgermeister hat versprochen, dass wir bald einen Wasserhahn für das Stadtviertel bekommen.“ Seit letzem Jahr hat das ganze Stadtviertel zum Glück Licht, da Paulino es Dank der Spenden, die ich von Deutschland erhalten habe, installieren konnte. Doch Wasser gibt es immer noch nicht. Alle zwei Wochen kommt ein LKW, der jeder Familie eine 100-Liter-Tonne füllt. Ich frage mich, ob sie überhaupt etwas trinken, denn diese 100 Liter müssen zum Waschen, Kochen, Geschirrspülen und Wäsche waschen ausreichen und sie werden nur alle zwei Wochen beliefert. Ein Wasserhahn in der Mitte des kleinen Stadtviertels wäre ein so großes Glück. Hoffenlich beeilt sich das Gouvernement.


„Lass uns rein gehen“, meint Maxima als es schon fast dunkel ist, „Paulino wird noch ein bisschen mit der Stirnlampe arbeiten.“ Wir gehen rüber zu ihrem Lehmhäuschen und Miriam kocht. Zum Abendbrot gibt es Ei mit Nudeln und Kartoffeln. Wir lachen und weinen die ganze Zeit. Wenn ich bei Maximas Familie bin, fühle ich mich so unglaublich wohl. Obwohl zwischen meinem Leben und ihrem harten Überleben Welten dazwischen liegen, verstehen wir uns so gut und sind uns dennoch so ähnlich. Sie haben mir gelehrt, dass das Einzige, was zählt, das Herz ist. Ich stelle immer wieder fest, dass ich mich so viel wohler und so viel mehr verstanden fühle von den armen Menschen aus Lajastambo als von meinen Freundeskreis aus dem Stadtzentrum.
Miriam hat riesen Freude daran, mir Quechua zu unterrichten. „Profe, ich bringe dir Quechua bei und du mir Deutsch!“, sagt Miriam und holt schon ihr Heft heraus, „wenn ich Deutsch kann, nimmst du mich mit nach Deutschland, ja?“ Immer wieder haben wir darüber gesprochen, dass ich eines Tages Miriam mitnehme. Nach langem Überlegen bin ich zu dem Entschluss gekommen, das erst in Angriff zu nehmen, wenn sie in vier Jahren ihren Schulabschluss absolviert hat. Sollte es uns tatsächlich gelingen, dass Miriam in Deutschland studieren kann, würde das den Wohlstand für die gesamte Großfamilie bedeuten. Hoffentlich werden die Visabestimmungen in den nächsten Jahren nicht noch verschärft, denn es ist jetzt schon so gut wie unmöglich, ein Bleiberecht zu bekommen. Lena, deren Papa aus Bangladesh kommt, meint zu mir traurig: „Wir haben so oft versucht, meine Cousins nach Deutschland zu holen und es hat nie geklappt.“ Wieder einmal wird uns unser unverdientes Glück bewusst, das wir mit dem europäischen Pass haben. Wir können gehen, wohin wir wollen, leben, wo auch immer es uns hinzieht. Fast jedes Land der Welt schmeißt uns das Bleiberecht regelrecht hinterher. Nach fünf Jahren, die man seinen Hauptwohnsitz in Bolivien hatte, bekommt man automatisch die bolivianische Staatsbürgerschaft.

Maxima holt eine große Flasche heraus und ich wundere mich, denn eigentlich trinken sie nicht. „Was ist das?“, frage ich verwundert. „Du wirst schon sehen…“, antwortet sie mir verschmitzt lächelnd. Sie füllt eine braune Flüssigkeit auf einen Löffel und gibt ihn mir. Neugierig probiere ich. Es ist Honig! „Den hat Paulino aus unserem Dorf im Norden von Potosi mitgebracht.“ „Sie haben mich überall gestochen“,sagt Paulino. Wir lachen die ganze Zeit und freuen uns einfach, zusammen zu sein. Die Zeit vergeht viel zu schnell und Efrain ist bereits eingeschlafen. Wir verdrängen den doch so nahen Abschied. Spät in der Nacht gibt es noch süßen Milchreis mit Brot.
Als ich mich auf den Weg mache, weinen wir wieder. Miriam, Maribel und Paulino führen mich durch die Nacht den steilen Pfad nach unten zur Straße. Es fahren bereits keine Busse mehr und ich muss im Taxi ins Stadtzentrum fahren, wo ich in der Shishabar schon erwartet werde. „Du kommst zu spät zu deiner eigenen Abschiedsparty“, sagt Jan vorwurfsvoll.
Mein Kumpel Yelson, der Besitzer der Shishabar, ist auf dem Heimweg seines Urlaubs leider nicht über die brasilianische Grenze gelassen worden und konnte daher nicht da sein. Aber all die anderen Freunde sind da und es ist eine wirklich schöne Nacht. Das Beste ist, dass es mal keinen Reggaeton gibt, sondern Techno, was schon ein kleiner Vorgeschmack auf Deutschland ist.

Es wird schon fast wieder hell, als ich mich schlafen lege. Mein letzter Tag in Sucre beginnt. Es gibt noch allerhand machen, doch obwohl ich natürlich verschlafe, reicht die Zeit doch noch aus, alles in Ruhe in Ordnung zu bringen. Nachdem ich alles fertig gepackt und sauber gemacht habe, gehe ich mich bei Frau Hochmann verabschieden. Die Gespräche mit ihr werde ich vermissen. Ich bewundere sie sehr für all das, was sie in Sucre bewegt hat. Seit über 50 Jahren leistet sie Entwicklungshilfe in Sucre.
„Du hast viel erlebt hier in den zwei Jahren. Ich glaube, dein Leben wird genauso bewegt weitergehen“, sagt sie mir zum Abschied. „Ich freue mich schon darauf, wenn du dann als Frau Doktor wiederkommst.“ „Ich glaube zwar, dass das nicht passieren wird, aber zurückkommen werde ich auf jeden Fall“, sage ich lachend.

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Zum letzten Mal sitze ich abends auf der Dachterrasse und schaue der Sonne zu, wie sie zwischen den Bergen untergeht. Nach und nach gehen die orangenen Lichter der Stadt an.

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Sonntag in der Frühe geht es nun los! Ziemlich aufgeregt packe ich noch die letzen Sachen ein, verabschiede mich von Jan und fahre zum Flughafen. Auf dem Weg durch die Stadt und schließlich über Land fließen mir ununterbrochen die Tränen über die Wangen. Ich kann nicht fassen, dass das nun wirklich passiert.

Ich sitze im Flughafen und warte. Es ist noch Zeit, bis ich mein Gepäck aufgeben kann. Plötzlich ruft jemand meinen Namen. Etwas erschrocken schaue ich auf. Meine ehemaligen Kolleginnen, Mery und Antonia, stehen vor mir. Welch eine große Überraschung! Wir haben uns lange nicht gesehen und schwatzend vergeht die Zeit.
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Das Abschiedsgeschenk, das sie mir mitgebracht haben, stopfe ich noch in die letzte freie Ecke meines Rucksacks und es wird nun ernst.

Nur eine halbe Stunde dauert der Flug nach Santa Cruz. Wir haben gerade noch Zeit für einen Kaffee in der Luft. Die Ankunft in der Großstadt ist etwas schrecklich, denn ich bin schon nach fünf Metern mit meinem Gepäck bei dieser tropischen Hitze völlig erledigt. Aber wie immer habe ich Glück und nette Menschen helfen mir. Im Hostel angekommen, gönne ich mir erst einmal eine kalte Dusche, bevor ich mich auf den Weg in die Innenstadt mache.

Am nächsten Morgen wird es erst: Ich steige in den Flieger nach Madrid. Den elfstündigen Flug überstehe ich gut. Ich schwatze mit meiner Stiznachbarin, einer Paraguayerin, die zum ersten Mal in ihrem Leben fliegt. Sie ist auf dem Weg nach Rom.
Die Einreise in die EU verläuft zum Glück ohne Probleme, sodass ich gleich ins nächste Flugzeug mit Ziel Frankfurt einsteigen kann. Leider bekommen wir die Starterlaubnis erst zwei Stunden später, da in Frankfurt ein schlimmes Unwetter ist.
Etwas gestresst lande ich auf deutschem Boden. Mein Zug nach Dresden ist schon längst ohne mich abgefahren. ‚Naja das wird schon irgendwie‘, denke ich mir mit meiner boliviansichen Gelassenheit. Ich zerre mein Gepäck durch die Tür in die Flughafenhalle. Lena und Tassilo stürzen mit offenen Armen auf mich zu. Welch ein genialer Empfang in der Heimat! Ein Jahr haben wir uns nicht gesehen, doch alles ist wie immer. Tassilo hat bereits alles organisiert, sodass ich ohne Probleme einfach den nächsten Zug nehmen kann. Der Flughafen – ein riesen Labyrinth – ist schon eine wahnsinne Reizüberflutung für mich. „Gott sei Dank, seid ihr da“, sage ich zu Lena und Tassilo, „alleine würde ich mich hier ja gar nicht zurechtfinden!“ Tassilo mit seinem genialen Ortssinn, der uns schon so oft in Sucre vor zwei Jahren gerettet hat, führt uns von einer Rolltreppe zur nächsten, bis wir endlich an den Zuggleisen ankommen.

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Tobi, den ich während des Wartens auf das Gepäck kennengelernt habe, hat sich uns angeschlossen. Er nimmt den gleichen Zug wie ich bis nach Leipzig. Wir stellen fest, dass wir die ganze Zeit ab Santa Cruz in den selben Fliegern gesessen haben. Er war auch Freiwilliger in Bolivien. Wir schwatzen die ganze Zeit und bestaunen gemeinsam die wunderschönen deutschen Wälder und Felder, die wir so sehr vermisst haben. Die vier Stunden bis nach Leipzig vergehen wie im Flug. Die letzte Stunde bin ich allein. Ich schaue aus dem Fenster und muss mir immer wieder sagen: ‚Das ist real! Das ist diesmal kein Film! Du bist wirklich hier!‘ Als wir durch Radebeul fahren, überschütten mich meine Emotionen. Die anderen Passagiere schauen mich neugierig an. Es ist nicht zu übersehen, dass ich von weit herkomme mit meinen Unmengen an Gepäck. Von weit her… aus einer anderen Welt. Ich habe das Gefühl, als wäre ich von einem anderen Planeten angereist – aus einem anderen Leben.

Im verwunschenen Schloss

Plötzlich steht Lucas, Rebecas Vater, vor meiner Tür. Er ist spontan – wie immer – nach Sucre gekommen. Kurzer Hand schlägt er sein Zelt in unserem Garten auf und wir setzen uns auf die Terrasse, trinken Tee, kauen Coca, rauchen und plaudern. Er hat viel zu erzählen, denn in den letzten Monaten ist viel passiert.
In Sucre ist der Winter hereingefallen und obwohl wir uns in Decken hüllen, ist die Kälte kaum auszuhalten. Doch glücklicherweise finde ich noch irgendwo einen Schnaps im Schrank, den wir trinken, um uns aufzuwärmen.
Die nächsten Tage verbringen wir viel Zeit zusammen. Ich liebe es, mit Lucas ziellos durch die Stadt zu schlendern. „Hast du heute was vor?“, fragt er mich. „Nö, gar nichts.“ – „Wo gehen wir hin?“ – „Irgendwo hin, wo es schön ist! Ich will bloß nicht ankommen…“ Lucas hat genauso eine Streunerseele wie ich und so lassen wir uns einfach treiben und erleben tausend Dinge…

Samstag treibt es uns nach Yotala, ein Dorf in der Nähe von Sucre. Lucas möchte seinen Freund Richard besuchen. Er hat ihn als Kind auf der Straße kennengelernt. Beide haben gearbeitet – Richard als Schuhputzer und Lucas hat Musik gemacht, um sich über Wasser zu halten. Beide haben lange Zeit in Deutschland gelebt und gearbeitet. Richard war Schauspieler und Lucas Musiker und Zimmermann.
Ein bisschen außerhalb des Dorfes steht ein Schloss. „Das hat Richard gebaut“, erklärt mir Lucas. Es überragt alle anderen Häuser mit seinen drei Türmen. Es ist sehr kunstvoll verziert. Wenn man vor der Eingangspforte steht, schauen einen von überall her steinerne Gesichter an. Wir setzen uns in die Sonne und warten auf Don Richard, wie Lucas ihn nennt.

Wir treten ein in Richards Schloss und mich erfasst sofort ein großes Staunen. Es ist tatsächlich so, wie ich mir als Kind immer die Märchenschlösser vorgestellt habe: unendlich viele Zimmer, Wendeltreppenenge dunkle Gänge und Balkone, von denen aus man über die Felder bis hin in die Berge schauen kann.
Wir setzen uns auf einen seiner Balkone in die Sonne. Die Männer trinken Bier und philosophieren und ich streichle derweil die zwei schönen großen Hündinnen, die die Herrinnen des Schlosses zu sein scheinen. Richard baut aus einem Zettel eine kleine Pfeife und steckt ein bisschen Gras an. ‚Ich bin schon berauscht genug von alledem‘, denke ich, aber ich will nicht unhöflich sein und so paffe ich ein bisschen mit. Richard packt ein bisschen Hanf in ein Tütchen und schenkt es mir.
Er führt uns über eine steinerne Wendeltreppe hinauf ins Dachgeschoss des Schlosses. Zwischen den beiden vorderen Türmen befindet sich ein Zimmer. „Die Leute sagen, mein Schloss wäre so groß, aber es ist voll. Schau!“ Wir treten in das Zimmer ein und ich finde mich in der Gellschaft von hunderten Puppen wieder.
Schon als Kind habe ich mich unheimlich vor Puppen gegruselt. Ich habe nur eine einzige besesssen und die musste meine Mutter wegschmeißen, denn ich habe von ihr Alpträume bekommen.
‚Sei nicht albern! Sie bestehen doch auch nur aus Gummi und Stoff‘, rede ich mir zu. Doch kann ich mich selbst leider nicht so recht überzeugen und es schaudert mir. Hunderte Augenpaare sind auf mich gerichtet – lachende Clowns, böse schauende Hexen, milde drein blickende Großmütterchen mit Schürzen und kalte Augen von Chinesen in bunten Gewändern. ‚Sie schauen dich nicht wirklich an. Sie leben doch nicht‘, rede ich mir zu. Doch obwohl sie nicht aus Fleisch und Blut sind, habe ich das Gefühl, die Hexen könnten sich jeder Zeit in meinen Haaren festkrallen, die Mütterchen mich mit ihrer Suppe vergiften, die Chinesen mich erstarren lassen mit ihren kalten abweisenden Augen und die Clowns ihr Lachen verlieren.
„Guck mal, die Ente habe ich in Ostdeutschland erstattet“, sagt Richard stolz und zeigt auf eine Holzpuppe. „Das ist Schnatterinchen“, sage ich und hoffe, dass er mein Zittern in der Stimme nicht hört. Schnatterinchen ist die Einzige seiner vielen Puppen, die mir keine Angst einflößt. Ich schaue sie an und höre sogleich ihre Stimme, die mir seit Kindertagen so vertraut ist: „Nak nak!“
Endlich treten wir aus dem Raum mit all diesen Gesichtern und starren Augen heraus ins Freie. Luna, eine der Hündinnen begrüßt uns freudig, als wären wir weit weg gewesen. Befreit schaue ich in ihre warmen Augen und lasse diese ferne Welt erleichtert zurück im Dachgeschoss des Schlosses.
„Ich möchte dir noch mein Theater im Keller zeigen“, sagt Richard und wir gehen hinab durch dunkle Gänge unter die Erde. Es sieht aus wie ein unterirdisches Amphitheater mit Sitzbänken aus Stein. Das wenige Licht, was durch schmale Fenster an den Seiten hereinfällt, lässt das Kellergewölbe mystisch erscheinen. Ich kann die grusligen Puppen über die Bühne tanzen sehen, wie sie kreischen und hässlich lachen…
Richard führt uns einen engen dunklen Gang entlang. Es wirkt alles so märchenhaft im flackernden Schein der Kerze: Spinnweben an den steinernen Wänden, Fledermauskot auf dem Boden und die engen Gänge, die wie ein Labyrinth durch das Unterirdische führen. Er bleibt stehen und deutet auf einen kleinen Altar, auf dem ein Totenkopf gebettet ist. „Ich möchte beten“, sagt Richard und gibt mir eine Kerze. „Lass uns gehen!“, flüstert Lucas. Ich möchte nicht unhöflich sein und seinen Glauben respektieren und akzeptiere deshalb die Einladung zu Richards außergewöhnlicher Messe. ‚Ich bin weder christlich noch sonst einer Religion zugehörig‘, denke ich mir, ‚ich muss mich also nicht rechtfertigen. Außerdem ist das doch eh alles bloß Theater‘, denke ich kühl. Richard schließt die Augen und murmelt in einer Mischung aus Jammergesang und harten Klängen unheimlich schnell seine Gebete. Ich verstehe nicht, für was er betet. Nur manchmal höre ich aus dem unverständlichen Gefasel zusammenhangslose Fetzen wie „verlorene Seelen“, „Vergebung“ und „Kraft“ heraus. Er deutet mir, die Kerze anzuzünden und neben den Totenkopf zu stellen. Obwohl es mir unangenehm ist, nun vom Zuschauer zum aktiven Teilnehmer seiner schwarzen Messe zu werden, folge ich, denn ich möchte ihn nicht kränken und ihm und seinem Glauben gegenüber Respekt entgegenbringen. Lucas sitzt auf einem Stuhl völlig passiv in Gedanken versunken. Richard wendet sich mit seinen Gebeten ihm zu und hält mit den Fingern seine Stirn fest. Das Gemurmel wirkt hypnotisierend und es schaudert mir im ganzen Körper. Lucas bewegt sich nicht und wirkt so willenlos. Ich bin völlig irritiert: ‚Ist das Theater oder Wirklichkeit?‘ Ich will einfach nur weg aus diesen spukenden Kellergewölben, raus unter blauen Himmel. „Ich will jetzt gehen“, sage ich laut und stoße Lucas am Arm. Die Angst in meiner Stimme ist nicht zu überhören. „Er wacht auf und alles ist gut“, murmelt Richard und Lucas schaut mich ernst an. Ich drehe ich um und renne die dunklen Gänge entlang, bis ich wieder auf dem Balkon ankomme, wo mich die Hündinnen freundlich empfangen. Lucas ist mir gefolgt und beim Anblick meiner zitternden Hände, sagt er bestimmt: „Wir gehen jetzt!“

Als wir ins Freie treten und die große Tür hinter uns zufällt, atme ich erleichtert auf, doch der Schreck, der tief in meinen Gliedern sitzt, will nicht so schnell weichen. Ich muss plötzlich anfangen zu lachen. Wie leicht ich doch mit solchen Geistergeschichten zu erschrecken bin! „In was für ein Schloss hast du mich denn da geführt?!“, sage ich lachend zu Lucas. „Ich wusste nicht, dass er für den Teufel arbeitet“, entschuldigt er sich.

Da es schon dämmert und scheinbar kein Bus mehr zurück nach Sucre fährt, versuchen wir zu trampen. Endlich hält ein Auto an. „Fahrt ihr nach Sucre? Könnt ihr uns mitnehmen?“, frage ich. „Mmm“, bekomme ich als unfreundliche Anwort. Noch völlig aufgewühlt von dem gerade Erlebten, was mir wie ein Traum erscheint, sitze ich im Auto und lasse die Landschaften an mir vorbeiziehen. Nur beiläufig bemerke ich, dass der Fahrer einem Polizisten herzlich die Hand schüttelt. Am Eingang der Stadt befindet sich eine Militärstation. „Wir steigen hier aus!“, sagt Lucas dem Fahrer. Es ist verboten, in der Nähe der Soldaten zu parken, doch Lucas besteht darauf.
Als wir aussteigen, frage ich, wie viel wir schulden, denn kostenloses Trampen ist in Bolivien unüblich. Die Frau des Fahrers sagt einen viel zu hohen Preis. „Entschuldigung, aber das ist unverschämt“, sage ich. Lucas geht in Richtung der Soldaten. Ich drücke ihr acht Pesos in die Hand, was der offizielle Preis ist. Die Frau schreit mich hysterisch an und beschimpt uns in vulgärster Sprache. Lucas sucht Schutz bei den Militärs, die sich aber nur schmunzelnd abwenden. Ich versuche sachlich und ruhig der Frau zu erklären, dass ich ihr auch zehn Pesos geben würde, wenn ich Kleingeld hätte. Sie schreit ohne Pausen immer wieder die selben Schimpfwörter und will sich gar nicht beruhigen. Das ganze Szenario erscheint mir so komisch, dass ich plötzlich lachen muss. Die Frau wird immer aggressiver und man sieht ihr an, dass sie am liebsten uns die Fäuste ins Gesicht schlagen würde, doch glücklicherweise hat sie ein Baby auf dem Arm, sodass das nicht möglich ist. Ihr Ehemann steht neben ihr und droht uns ununterbrochen: „Ihr seid doch Illegale! Ihr habt doch Drogen! Ihr seid Banditen! Ich lasse euch verhaften! Ich habe Freunde bei der Polizei und der Partei!“ „Ein Sozialist, der keine Solidarität kennt“, provoziere ich den Mann und für einen kurzen Moment der Verwirrung setzt das Gezeter aus. Doch dann schreien sie einfach genau die selben Frasen wie zuvor, denn zur Ruhe zu kommen und nachzudenken, scheint ihnen wohl ein Zeichen der Schwäche.
Die Frau beruhigt sich zwar in keiner Weise, doch hat sie von dem utopischen Preis, den sie zuerst forderte, abgesehen und schreit nur noch, dass sie zehn Pesos haben will. Ich muss wieder lachen, denn ich habe mindestens schon fünfmal erklärt, dass wir kein Kleingeld mehr haben. Wieder ertönen die Drohungen des Mannes: „Wir fahren jetzt gleich zum Einwohnermeldeamt und dann werden sie euch festnehmen, weil ihr Illegale seid!“ Mir erscheint wieder alles wie ein Traum – Wegen lächerlichen zwei Pesos der ganze sinnlose Streit. Ich schaue Lucas ratlos an. „Siehst du, das ist die Macht der Demonen. Du hättest die Kerze nicht anzünden dürfen!“ Irgendwann kramt Lucas doch noch einen Zehner aus der Tasche und wir können das komische Paar endlich abschütteln. Erst jetzt fällt mir wieder das kleine Tütchen ein, dass mir Richard geschenkt hat. „Oh Gott, stell dir das vor! Das wäre ja jetzt wirklich fast ins Auge gegangen“, sage ich erschrocken und schmeiße es weit weg. Die Vorstellung an einen bolivianischen Knast lässt es mir kalt den Rücken herunterlaufen.
„Siehst du, so sind die Arschlöcher von der Partei!“, sagt Lucas bitter, „Jetzt kennst du die Realität: Ignorante Bauerntrottel, die sich mächtig fühlen und jegliche Werte vergessen haben. Die pure Gier hat hier gesprochen. Aber bloß gut, so haben wir die Demonen bei diesen schrecklichen Leuten gelassen.“

Lucas vergewissert sich, dass nicht doch noch irgendwo ein Polizist auftaucht, der uns festnehmen will und dann laufen wir ein Stück die Straße entlang. Wir befinden uns am Stadtrand und kommen schließlich an einer Bushaltestelle, wahrscheinlich die einzige ganz Sucres, vorbei. „Lass uns hier warten“, meint Lucas und wir setzen uns. Neben uns sitzt ein junger Mann mit weit aufgerissenen Augen. „Guckt ihr mich etwa an?“, fragt er uns mit hysterischer Stimme. „Lass uns lieber zu Fuß gehen“, sage ich zu Lucas und wir laufen weiter. „Wir scheinen wirklich wie Banditen auf die Leute zu wirken“, lache ich. „Die Demonen verfolgen uns“, lacht Lucas, „aber das Gute ist, dass wir so optimistisch sind und einfach darüber lachen können!“

El Presidente Evo zu Besuch!

Nachdem ich zweimal umsonst nach Tarabuco gefahren bin, um den Präsidenten, Evo Morales, zu sehen, erbarmt er sich nun doch noch und kommt sogar zu mir.

„Am Freitag kommt Evo in die Schule, Profe!“, erzählen mir die Kinder begeistert während des Mittagessens. „Du musst unbedingt kommen“, betteln sie. „Natürlich werde ich kommen. Ich will Evo doch schon so lange kennenlernen!“ Drei Tage lang gibt es fast kein anderes Gesprächsthema. Immer wieder fragen mich die Kinder, ob ich auch wirklich in die Schule kommen werde. „Du musst auch unbedingt pünktlich sein, Profe!“, ermahnen sie mich.

Am Freitagmorgen stehe ich also zeitig auf und mache mich schläfrig auf den Weg nach Lajastambo. Als ich mich der Schule nähere, höre ich Sprechchöre „Que viva Evo! (Evo lebe hoch!)“ schreien. Vor der Schule marschiert das Militär auf. Die Soldaten, die fast noch Kinder zu sein scheinen, tragen ihre schönsten Uniformen und halten stolz ihr Bajonett in die Höhe.

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Der Platz vor der Schule ist voller Menschen. Ich sehe ein paar meiner Kinder umherrennen, doch sie sind so aufgeregt, dass sie mich in der Menschenmasse gar nicht erkennen.
„Ob die uns rein lassen?“, frage ich Lena etwas besorgt. Ich sehe Wilson an uns vorbeifegen. „Hola Wilson!“, fange ich ihn ab, „wenn die uns nicht reinlassen, sagst du bitte, dass du aus einem Kinderheim bist und wir deine Erziehungsberechtigten sind, ja?“
Doch alle Sorge ist umsonst. Wir nähern uns dem Schultor und können ohne jegliche Sicherheitskontrollen einfach hineinspazieren. Auf dem Schulhof ist eine kleine Bühne und ein Rednerpult aufgebaut. Evo sitzt keine zwanzig Meter von uns entfernt.
Ich blicke mich um: Es gibt nur eine Handvoll Polizisten, die abgesehen von ihrem Schlagstock kaum bewaffnet sind. Einen Bodyguard kann ich erkennen. Er sitzt direkt hinter Evo, sodass im Falle eines Attentates Evo eigentlich mehr seinen Bodyguard schützt als er ihn. Eine Bank wird mehr beschützt als der Präsident!

Einer unserer Jungs, Jhonny, darf die Begrüßungsrede halten und Evo anschließend die Hand schütteln. Stolz erzählt er mir danach, dass Evo ihn „hijo (Sohn)“ genannt hat.
Evo sitzt auf der Bühne zwischen anderen Parteigenossen und Ministern. Er plaudert mit seinen Sitznachbarn und kichert. Die ganze Athmosphäre ist völlig entspannt. Der Bürgermeister von Sucre, Ivan, trägt die typischen Sandalen aus Autoreifen. Alle Staatsmänner sind sehr schlicht gekleidet. Sie tragen schwarze Hosen und dunkle Pullover. Keiner trägt Hemd und Anzug. Evo putzt sich andauernd die Nase. Es wird ihm ein roter Poncho gebracht und eine Wolldecke, in die er sich einhüllt. Das Staatsoberhaupt sitzt in Decken eingehüllt auf seinem Stuhl und es wirkt fast, als würde er zu Hause gemütlich im Sessel sitzen und fernsehen, währenddessen er seinen Schnupfen auskuriert.

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(Ivan, Oberbürgermeister von Sucre vierter v. l., Evo fünfter v.l. vorne, Esteban, Ministerpräsident von Chuquisaca sechster v. l. vorne)

Nachdem der Bürgermeister Ivan, und der Ministerpräsident von Chuquisaca, Esteban, ihre Reden gehalten haben, kommt Evo zu Wort. Er schlägt vor, den Namen der Schule zu ändern, denn das Colegio ist nach dem Berg Sinai in Ägypten benannt. „Ein wichtiger Schritt der Dekolonialisierung ist die Verwendung von Namen, die bedeutend für Bolivien sind.“ Außerdem verspricht er noch, zehn neue Lehrer einzustellen.
Danach besucht er noch den Computerraum der Schule. Lena und ich drängeln uns durch die Massen und stehen plötzlich nur einen Meter entfernt neben Evo. Ich winke ihm zu und er grüßt zurück. „Es wäre ein Leichtes, jetzt ein Attentat zu verüben. Wir könnten ihm einfach ein Messer in den Bauch rammen“, sage ich etwas entsetzt zu Lena, „Ich verstehe nicht, warum er so wenig beschützt wird. Nicht alle lieben ihn!“

Das Auto, in dem Evo chauffiert wird, ist direkt am Eingang der Schule geparkt. Wir drängeln uns wieder mit den Kindern durch die Massen und kommen Evo so nahe, dass wir ihn fast anfassen können. Er schüttelt den Kindern die Hände und fährt schließlich davon.

Am Ausgang treffe ich auf Zulma, die Mama von Alejandro, ein Kind von meiner Arbeit. „Gestern war Evo auch schon in Lajastambo. Er hat die andere Schule oberhalb vom Markt besucht. Ich habe gestern sogar mit ihm kurz sprechen können“. erzählt sie mir. „Was hast du ihm denn gesagt?“, frage ich sie neugierig. „Ich habe ihm gesagt, dass er die Straßen von Lajastambo asphaltieren und endlich mehr Lehrer in den Schulen hier einstellen soll. Er hat mir versprochen, sich darum zu kümmern“, erzählt sie mir. „Das hast du gut gemacht! Hoffentlich nimmt er es erst! Die Situation in den Schulen von Lajastambo ist eine Katastrophe!“
Es ist erst um 10, sodass ich noch ein bisschen Zeit habe, ehe ich den Mittagstisch vorbereiten muss. Zulma lädt mich zu sich nach Hause ein. Sie schält Kartoffeln und unterrichtet mir währenddessen Quechua. Nach anderthalb Stunden brummt mir der Kopf und ich möchte mich verabschieden, doch sie lässt mich immer mehr Vokabeln notieren. Es macht ihr viel Spaß, mir ihre Muttersprache beizubringen. Ich schreibe ununterbrochen mit und nach fünf vollen Blättern, entlässt mich schließlich meine zielstrebige Lehrerin. „Das wirst du alles auswendig lernen und beim nächsten Mal frage ich dich ab!“ ‚Ach Herrje‘, denke ich, ‚ich bin doch Schule gar nicht mehr gewöhnt und Hausaufgaben bereiten mir Bauchschmerzen…‘ Ich bedanke mich herzlich und versuche, ein paar der neuen Vokabeln anzuwenden. Zulma freut sich sehr und führt mich noch durch ihren kleinen Garten. Sie schenkt mir Zitronenmelisse, Pfefferminze und allerhand Kräuter, die gegen Magenprobleme und Krebs helfen.

Als ich in die Küche des Comedors trete, wo Satunina, unsere Köchin, und Maxima das Mittagessen vorbereiten, krame ich meine Zettel heraus und lese ein paar der neu gelernen Sätze vor. Sie lachen und reden wild auf mich ein. Ich verstehe nicht mal die Hälfte und sage einfach immer: „Ari ari (Ja ja)“. Sie lachen und machen mir Mut: „Quechua ist so einfach. Das wirst du schon noch lernen!“ Sie haben recht, Quecha ist eine sehr einfache Sprache, aber die Wörter haben logischerweise nichts mit europäischen Sprachen zu tun und sind unglaublich lang. Dennoch verliere ich nicht den Mut und freue mich riesig, wenn ich zumindest den Gesprächsinhalt verstehe.

Ein Herz für Jhenifer

Jhenifer hat das Syndrom Turner, welches eine genetische Krankheit und unheilbar ist. Die Betroffenen können in den meisten Fällen ein ganz normales Leben führen. Jhenifers Fall ist ein wenig kompliziert, denn sie hört fast nichts und hat einen angeborenen Herzfehler.
Während der vielen Arztbesuche in so gut wie fast allen Krankenhäusern Sucres, sagen uns die Ärzte immer wieder: „Sie muss dringend operiert werden. Jeden Augenblick kann sie tot umfallen.“ ich überlege nicht lange und frage: „Wann können Sie das Kind operieren?“ „Wenn du 10 000 Dollar hast, dann sofort“, lautet die Antwort.

Zusammen mit der Sozialarbeiterin des SOS Kinderdorfes und dem Chef der Welthungerhilfe suchen wir wochenlang nach Möglichkeiten. Ich hatte mich schon fast mit der traurigen Tatsache abgefunden, dass die Operation in den Sternen steht, als wir eine Ärztin aus La Paz ausfindig machen, die Jhenifer kostenlos operieren will.

Einen Monat später nehmen wir die ungewisse Reise in Angriff. Die Mutter, ihr kleines Baby, Miguel, der gerade mal drei Jahre alt ist, Jhenifer und ich.
Die Kinder sind aufgeregt und zählen die Nächte bis zur großen Reise. Juana, Jhenifers Mama, und ich haben Angst. Alles ist völlig unklar: Wie lange wir bleiben müssen, wo wir übernachten können, wie wir die Reise bezahlen und die Frage, die uns am meisten besorgt, wer wird sich um die anderen drei Kinder von Juana in der Zeit kümmern. Der Ehemann von Juana bleibt zwar in Sucre, doch möchte sie ihm die Kinder nicht anvertrauen, da er unverantwortlich und Alkoholiker ist.
Juana und ich können die Nächte vor der Reise kein Auge zudrücken. Ich ärgere mich, dass ich mir schon wieder so eine große Verantwortung aufgehalst habe, aber es gibt kein Zurück und es ist notwendig…
Tausend Gedanken schwirren in meinem Kopf: ‚Was passiert, wenn das Mädchen während der OP stirbt?‘ … ‚In La Paz ist es zu dieser Jahreszeit bitterkalt und die Kinder haben kaum Anziehsachen‘ … ‚Ich kenne die Stadt kaum und sie ist unheimlich groß‘ … ‚Was machen wir, wenn wir den kleinen Miguel im Chaos der Großstadt verlieren? – Er ist so schwer zu bändigen‘ … ‚Was ist, wenn sie uns überfallen? – Ich habe so viel Bargeld dabei‘ …

Am Tag der Reise fügen sich die Sachen wie durch ein Wunder. Das SOS Kinderdorf verspricht uns eine Unterkunft, in der wir erstmal bleiben können.

Am Sonntagabend steige ich mit den drei Kindern und Juana in den Bus. Ich bin erstaunlicherweise völlig ruhig, obwohl ich davon ausgehe, dass alles schief gehen wird…

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Die nächtliche Busfahrt überstehen wir, bis auf einen kleinen Zwischenfall – das Baby muss sich übergeben, gut. Wir steigen aus und finden uns in der hektischen Großstadt nur schwer zurecht. Doch zum Glück sind die Leute in La Paz sehr hilfsbereit und erklären uns, wie wir ans andere Ende der Stadt, wo die Herberge des SOS ist, kommen. Als wir auf den richtigen Bus warten, kommt ein Mann auf uns zu und drückt dem kleinen Miguel einen Peso in die Hand: „Damit du dir etwas Süßes kaufen kannst.“ Juana und mir bleibt der Mund offen stehen. Solche Solidarität sind wir nicht gewöhnt.

Wir fahren fast zwei Stunden immer tiefer ins Tal hinein, bis wir endlich an der südlichen Stadtgrenze von La Paz ankommen.
Franz, der Hausmeister, empfängt uns sehr herzlich. Juana und ich wundern uns schon wieder über so viel Glück: Wir hatten beide mit einem Zimmer, in dem es nur Betten gibt, gerechnet. Stattdessen wird uns eine Ferienwohnung mit Bad, Küche, Wohnzimmer und zwei Schlafzimmern angeboten. Jhenifer ruft begeistert: „Wir holen meine Geschwister nach und bleiben hier für immer! Du wirst mit uns wohnen, Profe!“

Wir legen unsere Sachen ab und machen uns wieder auf eine Weltreise durch das chaotische La Paz. Gott sei Dank gibt es GoogleMaps! Ohne mein Smartphone wäre unser Überleben in La Paz unmöglich…
Wir finden schließlich die Straße, doch nirgends gibt es eine Klinik. Wir fragen herum und die Leute sagen uns, dass die Herzklinik umgezogen sei, aber keiner wisse wohin… ‚Ohje‘, denke ich, ‚was tun wir jetzt?‘
Doch das Glück lässt uns heute nicht im Stich und wir finden die kleine unscheinbare Klinik doch noch. Als wir eintreten, bekomme ich einen Kulturschock: Sie sieht aus, wie eine Kinderarztpraxis in Deutschland – Die Wände sind bunt und im Wartebereich gibt es Spielzeug. Nie zuvor habe ich so etwas in Bolivien gesehen. Die Kinder machen sich begeistert über die Spielsachen her und verwüsten gleich erstmal das Wartezimmer.
Die Sprechstundenhilfe erklärt uns, dass wir warten müssen, denn die Ärztin sei in einer Besprechung. ‚Okay, der Klassiker‘, denke ich und richte mich schon mal darauf ein, einige Stunden mit Warten zu verbringen.
Nach ungefähr fünf Minuten begrüßt uns die Ärztin und winkt uns in ihr Arztzimmer hinein. Ich bin fassungslos. So unkompliziert ging noch nie ein Arztbesuch in Bolivien vonstatten.
Die Ärztin ist sehr freundlich und wirkt sehr kompetent. Sie untersucht Jhenifer lange, bis sie plötzlich die Kleine hinausschickt. Ich bin vorbereitet auf jegliche schrecklichen Nachrichten. Die Ärztin erklärt uns alles in ganz einfachen Worten, sodass Juana und ich auch alles verstehen: Eine der Herzklappen öffnet sich nicht richtig. Die Operation kann über eine Oberschenkelvene realisiert werden. Das heißt, dass Jhenifers Brustkorb nicht geöffnet werden muss. Mir kommen die Tränen vor Erleichterung. Das Risiko der OP ist relativ gering und auch die Erholungszeit danach. „Wir rufen euch an, wenn wir den genauen Termin wissen. Ihr könnt also heute Abend noch zurück nach Sucre fahren“, sagt uns die Ärztin. „Es gibt eine lange Warteliste, aber in eurem Fall werden wir euch vorziehen.“ Juana lacht vor Erleichterung und ich kann nur mit Mühe und Not die Tränen zurückhalten.
Die Ärztin spricht mich plötzlich auf deutsch an. Sie erzählt mir, dass sie die Enkelin jüdischer Flüchtlinge ist und ihren Facharzt in Deutschland gemacht hat.
Als wir die Klinik verlassen, sagt uns die Sprechstundenhilfe: „Eigentlich kostet die Untersuchung 200 Bs. Aber die Ärztin will von euch kein Geld.“ Ich würde ihr am liebsten um den Hals fallen für so viel Solidarität.

Wir gehen auf dem Markt Mittag essen und als hätten wir heute noch nicht genug Nächstenliebe empfangen, tritt plötzlich ein Mann an mich heran und sagt: „Ich möchte dir zehn Pesos für diese arme Frau geben.“ Wieder bleibt uns der Mund offen stehen…

Noch in der selben Nacht fahren wir zurück nach Sucre. Der nette Hausmeister versichert uns, dass er uns beim nächsten Mal wieder in dieser Wohnung unterbringen wird.

Noch nie hatte ich so viel Angst vor einer Reise und doch ist dieser Tag in La Paz einer der schönsten während meiner zweijährigen Arbeit als Freiwillige.

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Ya no mas wawitas!

In den Stadtrandbezirken und auf dem Land wissen die meisten Mädchen und Frauen nichts über sexuelle Aufklärung und Familienplanung. Viele werden sehr jung schwanger und können daher die Schule nicht zu Ende bringen, was sie widerrum daran hindert, einen Beruf zu erlernen und sie als Hausfrau von ihrem Mann komplett abhängig macht. Die gänzige Abhängigkeit macht leider häusliche Gewalt und Vergewaltigungen durch den eigenen Ehemann möglich. Es wird oft als eine unveränderbare Normalität angesehen.

Als ich noch in Lajastambo wohnte, erzählte mir meine Nachbarin, die damals erst 19 Jahre alt war, dass sie zum dritten Mal schwanger sei. Ihre ältere Tochter war bereits fünf Jahre alt, auf dem Rücken trug sie einen kleinen Säugling und im Bauch bereits den nächsten. So ist es keine Seltenheit, dass Frauen mit Anfang Dreißig schon sechs oder sieben Kinder haben.

Immer wieder versuche ich, die Mütter aus unserem Projekt, für Verhütung zu begeistern. Immer wieder bleibt es erfolglos, selbst wenn die Frauen zustimmen, denn Verhütung wird vor allem von den Männern abgelehnt, da angeblich nur Prostituierte sich vor Schwangerschaften schützen. Wenn eine Frau sich sterilisieren oder ein Hormonimplantat einsetzen lassen möchte, muss der Ehemann eine Einverständniserkärung unterschreiben und daran scheitert es in den meisten Fällen. In Bolivien darf eine Frau immer noch nicht selbstständig über ihren eigenen Körper entscheiden.

Doch endlich kann ich Cristina, Mutter von sechs Kindern und gerade erstmal Mitte Dreißig, überzeugen, keine weiteren Kinder mehr in die Welt zu setzen. Am meisten leuchtet ihr mein Argument ein, dass die Kinder bereits unterernährt sind und am Nachmittag nach Schulschluss arbeiten müssen, um die Familie zu ernähren. „Die ganze Situation wird sich nur noch verschlechtern, wenn ihr noch ein zusätzliches Mäulchen füttern müsst“, rede ich auf sie ein. Selbst ihr Ehemann stimmt dem zu und verspricht mir, eine Einverständniserklärung zu unterschreiben.

Damit die Sterilisierung kostenlos durchgeführt werden kann, benötigen wir eine Unterschrift des Arztes des Gesundheitszentrums von Lajastambo. Um acht Uhr früh treffen wir uns in dem Gesundheitszentrum, dessen Hof bereits so voll ist, dass wir Mühe haben überhaupt durch das Gitter einzutreten. Die Schlange vor der Praxis ist unglaublich lang. „Die werden uns hier niemals dran nehmen“, sage ich entgeistert. „Doch!“, antwortet mir Cristina und drängelt sich einfach in den vorderen Teil der Schlange. So schaffen wir es einen Zettel mit einer Nummer zu ergattern. Es werden nur fünfzehn Zettelchen mit Nummern vergeben. Alle, die es nicht geschafft haben, einen davon abzubekommen, müssen am nächsten Tag erneut ihr Glück versuchen.
Wir müssen fünf Stunden warten, bis unsere Nummer endlich aufgerufen wird. Während der langen Wartezeit erzählen mir andere Patienten, dass sie vor den Gittern des Gesundheitszentrums übernachtet haben, um am Morgen ein Zettelchen zu bekommen. Ich fühle mich schlecht, weil wir uns in der Schlange vorgedrängelt haben.

Nach fünf Stunden werden wir endlich aufgerufen und der Arzt unterschreibt uns das nötige Formular. Ich unterhalte mich kurz mit ihm und er erzählt mir, dass sie vor ein paar Jahren noch zu dritt im Gesundheitszentrum gearbeitet haben. Jetzt ist er allein für den ganzen Bezirk Lajastambo zuständig. „Die Gelder werden einfach gestrichen und die Ärzte müssen als Taxifahrer sich ihr tägliches Brot verdienen“, erklärt er mir verärgert.

Es mangelt in den Krankenhäusern und in den Gesundheitszentren an Ärzten. Die Gesundheitsversorgung ist in ganz Bolivien – abgesehen von Privatkliniken – eine entsetzliche Katastrophe. Und trotzdem findet man, wo man hinsieht, arbeitslose Ärzt*innen und Krankenpfleger*innen.
Den selben Missstand findet man im Bildungswesen wieder: Lehramtstudent*innen haben Schwierigkeiten, einen Job nach Abschluss der Universität zu finden, obwohl es zu wenige Schulen gibt, um alle Kinder unterzubringen und die Klassen mit 40 Schüler*innen hoffnungslos überfüllt sind. Auch da heißt es, wer kein Geld hat und seinen Kindern keine Ausbildung an privaten Einrichtungen ermöglichen kann, muss am Anfang des neuen Schuljahres die Nächte vor den Gittern der Schulen verbringen, um am Morgen vorne in der Schlange einen Platz zu ergattern, denn die Plätze für Schulbildung sind begrenzt.

Nachdem wir nun endlich die Unterschrift haben, heißt es erneut stundenlang warten im Krankenhaus von Lajastambo. Damit Cristina sterilisiert werden kann, müssen im Vorhinein Untersuchungen durchgeführt werden. Eine ganze Woche verbringen wir im Krankenhaus mit Schlange stehen, Warten und kurzen Untersuchungen. Es kommt vor, dass wir einen ganzen Tag für einen Stempel oder eine Unterschrift Schlange stehen müssen. Im Flur des Krankenhauses läuft der Fernseher. Zwischen Disney-Filmen und Seifenopern wird immer wieder die Propaganda des Gesundheitsministeriums abgespielt: „El derecho a la salud – Una realidad en Chuquisaca! (Das Recht auf Gesundheit – Eine Realität in Chuquisaca!)“

Nachdem wir alle Voruntersuchungen durchgeführt haben, bekommen wir endlich ein Gespräch mit dem zuständigen Arzt. Der Arzt wirft mit Fachwörtern um sich herum und Cristina, die kaum spanisch spricht, versteht nichts. Ich bitte den Arzt, es in Quechua zu erklären, doch er sagt nur mürrisch: „Ich spreche kein Quechua.“ So muss ich als Ausländerin zwischen zwei Bolivianern übersetzen. Die Situation verbildlicht die unglaublich große Distanz zwischen den sozialen Klassen.
Der Arzt erklärt mir, dass noch eine Untersuchung fehlt. Es wäre auch zu schön gewesen… Crisina muss auf Gebärmutterhalskrebs geprüft werden. „Wir führen diese Untersuchung nicht mehr durch“, erklärt mir der Arzt.
„Man muss immer weinen, sonst machen die Ärzte gar nichts“, hatte mir mal jemand geraten. Also grabe ich mein kaum vorhandendes Schauspieltalent aus und fange an, den Arzt voll zu jammern. Es funktioniert! Fünf Minuten später drückt er mir die Probe in die Hand. Ich fahre in die Stadt in ein anderes Krankenhaus, um sie dort im Labor abzugeben. „Wir führen diese Untersuchung hier nicht mehr durch“, wird mir auch dort gesagt. Ich versuche wieder mein Glück mit den Tränen, doch bleibt der Krankenpfleger hart. Also renne ich in das nächste Krankenhaus. Als ich dort ankomme, sagen mir die Krankenschwestern im dortigen Labor, dass sie die Probe auf Gebärmutterhalskrebs zwar durchführen, aber heute nicht mehr, denn es war bereits kurz nach 18 Uhr.
Also muss ich am nächsten Morgen erneut mein Glück versuchen. ‚Jetzt endlich!‘, denke ich voller Hoffnung. „Der Stempel fehlt auf dem Zettel“, sagt mir die Krankenschwester trocken. Wieder bedarf es meinem Schauspieltalent, doch die Pflegerin sagt trocken: „Ohne diesen Stempel machen wir gar nichts!“ Mir bleibt nichts anderes übrig, als einmal quer durch Sucre zu fahren, um das Formular im Krankenhaus von Lajastambo stempeln zu lassen.
Zwei Stunden später stehe ich wieder derselben Krankenschwester gegenüber, diesmal mit voller Gewissheit, dass nichts mehr schief gehen kann. „Geben Sie mir bitte den Ausweis der Senora.“ Mir bleibt der Mund offen stehen. „Die Senora ist in Lajastambo. Ich bin da gerade hin gefahren wegen des Stempels. Warum haben Sie mir nichts gesagt?! Wenn ich da jetzt nochmal hinfahre, bin ich insgesamt vier Stunden unterwegs nur wegen dieses unsinnigen Bürokratiekrams“, meckere ich die Pflegerin voll. Tränen scheinen ja nicht zu helfen, also versuche ich es mal auf die härtere Weise und tatsächlich sieht sie darüber hinweg und nimmt endlich die Probe entgegen. Nun heißt es nur noch warten, denn auch im Labor mangelt es an Arbeitskräften.

Nach insgesamt anderthalb Wochen sind wir endlich soweit und Cristina bekommt ein Bett im Krankenhaus von Lajastambo zugewiesen. Völlig erschöpft nach diesen Tagen fahre ich nach Hause. Plötzlich ruft mich der Ehemann von Cristina an und erklärt mir, dass sie nach Hause gehen wollen, denn sie hätten zu große Angst vor dem Eingriff. Ich bin entsetzt: Anderthalb Wochen Rennerei und nervenzerreißendes Warten soll nun umsonst gewesen sein?! Ich rede auf den Mann ein und glücklicherweise kann ich ihn doch noch überzeugen. Wir müssen einen ganzen Tag auf die Sterilisierung warten, denn der zuständige Arzt ist überlastet. Ich bekomme ununterbrochen Anrufe von Cristina oder ihrem Mann, doch Gott sei Dank kann ich sie immer wieder beruhigen und davon überzeugen, das Krankenhaus nicht vor dem Eingriff zu verlassen und schließlich wird Cristina sterilisiert. Sie übersteht den kleinen Eingriff problemlos.

Zeichen setzen

Endlich finde ich Zeit und Muse, mein lang ersehntes Vorhaben endlich mal zu verwirklichen…
Am 21. März, dem Tag des Herbstanfanges in Bolivien, lasse ich mir das Symbol Intikilla auf die linke Schulter tättoowieren. Zwei Wochen später, am 3. April, lasse ich mir auf meinem rechten Arm das Symbol Chacana in sieben verschiedenen Ausführungen auf der Haut verewigen. Beides sind Symbole aus der Andenhochkultur der Incas und haben eine sehr breite Bedeutung.
Für mich persönlich symbolisieren sie meine wunderschöne Zeit in Sucre, die mich so sehr geprägt hat und es auch noch tut. Schon damals, als ich am Busterminal in Sucre ankam, habe ich gespührt, dass ein großer Teil von mir hierher gehört.

Gestaffelte Abschiede

Wie schnell die Zeit vergeht… Die zwei Monate zusammen mit meiner Cousine sind wie im Flug vergangen. Für Tini heißt es nun erstmal noch zwei Wochen Arbeit auf Bauernhöfen in Chile und dann das Antreten der Heimreise.
Zum Abschied gehen wir vier, die zwei Cousin- bzw. Cousinenpärchen, im Semental, wo man das beste Steak von Sucre bekommt, gemeinsam essen.
1

Wir drei Mädels brunchen noch einmal auf der Terrasse, wie es sich nach unserer sonntäglichen Tradition gehört… Die Mädels machen sogar Crêpes 🙂
2
… Und dann werden auch schon fleißig Koffer gepackt. Ich räume mein Zimmer auf und suche alles raus, was unbedingt mit nach Deutschland muss, um es Tini mitzugeben. So kann ich dann bei meiner Abreise Platz für Souvenirs freihalten.
„Kannst du mal kurz rüber kommen, es ist so schwer“, rufe ich über den Balkon. Als Antwort höre ich Rebeca und Tini kichern. „Wie soll ich denn das dann durch Chile schleppen?!“, meint Tini entgeistert. Daran hatte ich gar nicht gedacht… Ich muss also aussortieren, doch viel leichter wird es trotzdem nicht…

Nachdem Tini in den Bus gestiegen ist, verabschieden wir auch schon Jonas.
Rebeca und ich laufen den steilsten Berg Sucres hinauf nach Munaypata, wo Jonas bei seinem Vater wohnt. Wir stehen auf dem Dach und warten darauf, dass das Teewasser kocht. Vom Dach aus schauen wir zu den Nachbarn hinüber, die gerade in riesigen Töpfen auf einem großen Feuer Fleich, Mais und Kartoffeln kochen. Beim Anblick des fettigen Fleisches sag ich erleichtert zu Rebeca: „Bloß gut, dass wir sowas nicht essen müssen!“
4.1
Rebeca und ich sitzen in der Küche, als Jonas hereinkommt, der auf dem Dach noch Wäsche aufgehangen hat. Mit einem ironischen Lachen meint er: „Die Nachbarn wollen uns zum Essen einladen.“ Ohje… Solche Herzlichkeit darf man natürlich nicht zurückweisen.
Uns werden die Teller voll bepackt und guten Mutes machen wir uns an die Arbeit. „Ich kann das nicht runter bekommen. Sogar die Kartoffeln sind in diesem Fett von dem Fleisch gebraten“, stöhnt Rebeca. Jonas isst am mutigsten. In einem Moment, wo hoffentlich keiner hingesehen hat, tauschen Rebeca und Jonas die Teller… Ich esse, ohne auf meinen Teller zu schauen, und stelle mir einfach ein leckeres Steak mit Bratkartoffeln vor. Wir haben es fast geschafft, da haut uns der Mann die Teller auch schon wieder voll. Ich kann mir das verzweifelte Lachen nur kaum verkneifen und Rebeca und Jonas übermalen ihren Eckel mit einem Grinsen.

Diesmal sind es zwei ganz besondere Happen: Eine Fettsparte und Blutwurst. „Die Blutwurst haben wir mit Minze gemacht“, lächelt mich der Mann stolz an. „Oh ja schmeckt super“, sage ich gequält und schaue auf das Etwas auf meinem Teller, dass eher aussieht als hätte jemand Magenprobleme gehabt. „Naja es ist ja auch nur gekochtes Blut“, rede ich mir gut zu und esse mit geschlossenen Augen, denn der Anblick ist unerträglich.
Als wir es endlich geschafft haben, verabschieden wir uns herzlich. „Wir kochen jeden Sonntag so groß, ihr könnt bald mal wieder kommen!“ „Natürlich! Es war wirklich sehr lecker“, bedanken wir uns und dann nichts wie raus, nicht dass uns noch eine Fettsparte zugeschoben wird…
„Wie konntest du nur so mutig sein und das alles essen?“, fragt mich Rebeca verwundert. „Weiß ich nicht, aber es ist ja jetzt zum Glück vorbei!“
Nachdem wir dieses Abenteuer halbwegs überstanden haben, können wir nun doch endlich noch unseren Tee trinken.
Rebeca und ich laufen durch die dunkle Nacht den Berg hinuter zu unserem Haus. Kurz vor unserer Haustür sehe ich plötzlich wie eine Horde Hunde Zähne fletschend aus einer Hofeinfahrt direkt auf uns zu rennt. „Rebeca!“, rufe ich ängstlich, doch als ich mich umdrehe, sehe ich sie bereits rennen. Wir nehmen die Beine in die Hand und rennen so schnell, wie wir können. Die Hunde sind dicht an meinen Waden. Ich warte nur darauf, dass sich ihre Zähne in meinen Beinen festbeißen. Doch Gott sei Dank sind wir schneller als die Hunde und können sie abhängen.
Tagsüber sind sie die niedlichsten Wesen der Welt, doch sobald die Sonne untergegangen ist, verwandeln sie sich in Bestien. Ich bin ein usgezeichneter Hundeliebhaber und hatte nie Angst. Doch nachdem ich nun schon zweimal gebissen wurde, bin ich ein bisschen vorsichtiger geworden und streichel nicht mehr jeden Straßenhund.

Nun sind wir nur noch zu zweit und auch von Rebeca muss ich mich bald verabschieden, doch bleibt uns noch ein bisschen Zeit und wir unternehmen viel.


So fahren wir nach Tarabuco. Jedes Jahr ist am Sonntag nach Karneval in Tarabuco, einem Dorf in der Nähe Sucres, ein großes Fest, zu dem die ganze Parteielite Boliviens und sogar der Präsident kommen.
Am Abend gibt es in der Turnhalle von Tarabuco ein großes Konzert, zu dem viele berühmte Gruppen wie die Masis und die Söhne von den Kjarkas auftreten.
5.1
Wir versuchen eine Flasche Vodka mit in die Halle zu schuggeln, doch schafft sie es nicht durch die Polizeikontrolle. „Nach dem Konzert kannst du dir die Flasche wieder abholen“, sagt mir der Polizist.
Hinter uns sitzt eine Gruppe, die sich mächtig betrinkt. „Die sind bestimmt von der Partei, deswegen durften die den Alkohol mit rein nehmen“, meint Lucas etwas verärgert.
Nachdem das Konzert spät in der Nacht zu Ende ist, suchen wir unseren Vodka, der spurlos verschwunden ist. Die Polizisten reden sich raus und tischen uns Ausreden auf. „Ist doch wohl klar, dass die den getrunken haben!“, regt sich Lucas auf. Doch ohne groß rumzudiskutieren, gehen wir lieber, denn Polizisten sollte man nicht widersprechen. „Nicht dass wir die Nacht in der Zelle verbringen müssen“, meint Lucas.
Wir übernachten bei einem Freund von Lucas, Pio, der in Tarabuco ein halbfertiges Haus hat. Wir zelten in einem Raum, denn es ist eine bitterkalte Nacht und wir wollen außerdem lieber mal den Chagas vorbeugen.
5.2
Wir schlafen wenig diese Nacht, denn am Morgen beginnt schon zeitig das Fest. Pio tanzt Pujillay, so wie es die Tradition an diesem Tag will.


Immer wieder schauen wir zur Tribüne, doch Evo ist nirgendswo zu erblicken. Wir fragen die Polizisten, die uns erzählen, dass der Präsident aus gesundheitlichen Gründen auf Kuba ist. Es ist wirklich eine Ironie! Letztes Jahr habe ich Evo um eine halbe Stunde verpasst und dieses Jahr ist er krank und kommt gar nicht erst. Na ja aber wir haben immerhin die Spitze von Sucre der MAS gesehen. Ich bin überrascht, wie wenige Sicherheitsvorkehrungen vollzogen werden. Die Staatsoberhäupte und Parteichefs sitzen auf der Tribüne zum Anfassen nah fast ohne Polizei.
5.5

Auf dem Weg nach Tarabuco haben Rebeca und ich in der Innenstadt Zettel mit der Aufschrift „Se regalan gatitos (Kätzchen zu verschenken)“ aufgehängt. Entgegen unserer Erwartungen melden sich tatsächlich viele, die einen meiner Enkelchen aufnehmen wollen. Einerseits bin ich erleichtert, denn ich kann den Geruch von Katzenpippi nicht mehr ertragen und auch haben sich sieben Katzen im Geldbeutel bemerkbar gemacht, doch ist es ein schmerzlicher Abschied. Zusammen mit Rebeca bringe ich die Katzen zu ihren neuen Familien. Die Kleinen lassen sich einfach transportieren, doch Che müssen wir leider in einer Tüte durch die Stadt tragen… Die Katze im Sack, wie es so schön heißt… 😉


Wir verbringen viel Zeit zu dritt – Rebeca, Lucas und ich. Da der Herbst in Sucre nun langsam einfällt, sind fast alle ein wenig erkältet. Da Schnaps bekanntlich gegen Halzschmerzen helfen soll, kaufen wir uns Tres Plumas. Auf einmal sagt Lucas: „Ich finde es schön, dass ihr so vernünftige Menschen seid.“ Rebeca und ich, die Schnapsflasche in der Hand, müssen lachen. „Ja, ziemlich vernünftig sind wir…“
An einem sonnigen Samstag steigen wir auf einen der Hausberge Sucres, der Cerro Churuquella. Lucas, der immer Coca kaut, meint zu uns: „Nehmt auch mal ein bisschen Coca wegen der Höhe.“ „Ist das denn höher als La Paz?“, fragt Rebeca erstaunt. Wir müssen lachen, denn der Berg ist nur ungefähr 3000 Meter hoch.
8.1
Lucas spricht fließend deutsch, denn er hat ungefähr 15 Jahre in Deutschland gelebt, als Rebeca klein war. Er erzählt uns viele Geschichten und wir können kaum aufhören, zu lachen. Wenn man auf einer Fremdsprache redet, kommt es schon mal vor, dass man zwei Wörter, die sich ähneln verwechselt. Lucas zeigt mir einen Pflanzensamen, den er vom Wegesrand aufgesammelt hat: „Aus dem Samen wird eine Wurst.“ „Eine Wurst?“, fragt Rebeca stirnrunzeld. „Eine W-U-RRR-ZZZ-EEE-LLL!!!“
Lucas erkundigt sich über den Verbleib meiner Katzen und meint: „Du hättest sie schlachten müssen, denn es ist schmerzhalft für sie, wenn sie den Besitzer wechseln müssen.“ „Ich kann die Katzen doch nicht essen! Das geht doch nicht!“, protestiere ich. „Doch, Katzenfleisch ist lecker. Frag mal Jonas, wir haben einmal eine geschlachtet.“ Ich erkläre Lucas, dass ich das aus moralischen Gründen nicht über’s Herz bringen könnte. Doch er meint nur trocken: „In China essen die sogar ihre Kinder.“ „So ein Quatsch!“, lachen Rebeca und ich. „Doch doch, die braten die. Kochen tut man Babys nicht.“ Lucas und seine Geschichten erheitern uns den etwas anstrengenden Aufstieg auf den Berg. Oben angekommen bittet Rebeca Lucas uns zu fotografieren und hält ihm ihr Handy hin. „Ich weiß doch gar nicht, wie diese Maschine funktioniert“, sagt Lucas etwas hilflos und dann hören wir es auch schon pausenlos klicken… Wir können uns das Kichern nicht verkneifen und unser Lachanfall wird durch die „Maschine“ verewigt.
8.2
Rebeca hat zwar als Kind fließend spanisch gesprochen, da sie bis zu ihrem sechsten Lebensjahr in Sucre gewohnt hat, doch scheint sie es größtenteils verlernt zu haben. Mit ihrem Vater spricht sie deutsch. Ab und zu fragt sie ihn nach einigen Redewendungen oder Worten. „Schön, dich kennengelernt zu haben“, will sie von ihm die spanische Übersetzung hören. Lucas‘ Anwort ist ein trockenes „Ja“. Wir lachen bis uns der Bauch weh tut. Verwundert schaut Lucas uns an. „Ich wollte doch die Übersetzung wissen!“, lacht Rebeca.
Nachdem wir vom Berg wieder herunter sind, schauen wir uns noch das Kinderheim, in welchem Lucas und Marianno, Jonas Vater, aufgewachsen sind. Es ist direkt an der Recoleta und besteht bis heute.
8.3

Rebeca begleitet ich ins Musuq Sunqu. Die Kinder lieben sie auf Anhieb, denn sie ist eine sehr gute Sozialarbeiterin. Sie hatte gerade ihr Studium abgeschlossen, bevor sie nach Sucre kam. Ich bin ihr sehr dankbar über ihre Hilfe. Außerdem kann ich viel von ihr lernen.


Überraschend bekommt das Musuq Besuch: Eine große ältere Dame auf einen Spazierstock gelehnt erscheint plötzlich in der Tür. Es ist Karen Hochmann. Frau Hochmann lebt seit über 50 Jahren in Sucre und ist durch ihre entwicklungspolitische Arbeit in der ganzen Stadt berühmt. Sie hat vor ca. 20 Jahren das CEMVA mit Hilfe von deutschen Spenden aufgebaut. Ihr Besuch ehrt uns sehr, denn er ist ein Freundschaftsantrag zwischen den beiden Projekten, die eigentlich miteinander im Streit waren. Es war immer mein Anstreben gewesen, dass die zwei Projekte miteinander kooperieren und das junge Projekt Musuq Sunqu von der großen Schwester CEMVA lernt. Doch leider war dies mit dem alten Personal nicht möglich. Doch nun mit der neuen fähigen Direktorin scheint sich mein Wunsch endlich zu erfüllen.

9.2.

Am Sonntag landet Kamil, Rebecas Mann, in Sucre. Einerseits freue ich mich sehr, ihn nach so vielen Erzählungen Rebecas nun endlich kennenlernen zu können, doch rückt seine Ankunft Rebecas Abreise näher.
10
Wir besuchen Rebecas Onkel Jaime und seine Familie.

Am Montag nehme ich mir halbtags frei und wir wandern zu den Siete Cascadas (Sieben Wasserfälle) am Stadtrand von Sucre. Wie immer haben wir viel Spaß und albern rum.

Am Abend gehen wir noch einmal ins Semental und genießen Steaks, fast so zart wie in Argentinien.
12.5

Am Dienstag ist nun leider soweit: Rebeca und Kamil steigen in den Bus Richtig Villazon, wo sie die argentinische Grenze überqueren. Von dort aus geht es weiter zu den Iguazú-Wasserfällen und schließlich mit einem geliehenen Wohnmobil durch Patagonien.
Natürlich endet unsere gemeinsame Zeit mit einem Lachanfall, wie könnte es auch anders sein. Lucas erzählt mir aufgebracht: „Wir haben heute ganze zwei Stunden gewartet!“ „Auf was denn?“, frage ich neugierig. „Auf das Wetter“, antwortet er beiläufig.
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Leider bleibe ich nun wieder alleine zurück in Sucre. Doch fehlt nicht mehr viel, bis wir uns alle wiedersehen. Die gegenseitigen Besuche sind schon geplant. 🙂

Carnaval ohne Wasserschlachten

Normalerweise bleibt man im Monat Februar keine fünf Minuten trocken, wenn man das Haus verlässt. ÜBerall lauern Kinder mit Wasserbomben.
Doch nicht so dieses Jahr. Die Regierung hat den Notstand auf Grund des ausbleibenden Regens ausgerufen. Die Regenzeit blieb zwar Gott sei Dank nicht komplett aus, doch verspätete sie sich um ungefähr einen Monat.
Im Februar gibt es bereits wieder Wasser, doch bleibt das Verbot, mit Wasser zu spielen, erhalten. Alle Städte halten sich daran außer Sucre. In der Hauptstadt ist es im Vergleich zum letzten Jahr wesentlich ruhiger, doch kann man sich den Spaß der Wasserschlachten nicht entgehen lassen. Auch im Musuq lassen wir den Kindern ihren Spaß und sie haben große Freude daran, mir einen 10-Liter-Eimer über den Latz zu kippen. Einen Montagnachmittag füllen wir Luftballons mit Wasser und gönnen uns mit den Kindern eine Schlacht auf dem Sportplatz.

Am 25. Februar fahren Tini und ich zur großen Entrada nach Oruro. Alle Hostels sind bereits Wochen im Vorraus ausgebucht, denn der Karneval von Oruro ist die größte Touristenattraktion Boliviens und besitzt sogar den Titel des Weltkulturerbes.
Wir fahren also auf gut Glück hin und planen die Nacht einfach durch zu machen oder notfalls auf dem Busterminal zu verbringen.
Früh um sechs Uhr steigen wir aus dem Bus. Es ist kalt, regnet und der Himmel ist komplett Wolken verhangen – Nicht gerade das beste Karnevalswetter. Naja was soll’s wir sind ja gut ausgestattet.

Wir trinken ganz viel heißen Kaffee, um uns aufzuwärmen und uns bei Laune zu halten. Am Nachmittag werde ich zum ersten Mal müde und wir beschließen nun von Kaffee auf Alkohol umzusteigen. Das ist auch gar kein Problem, denn unsere Sitznachbarn füllen uns mit Begeisterung großzügig ab.


Am späten Abend mache ich den Fehler, mit dem Trinken aufzuhören und merke plötzlich die letzte Nacht, die wir nicht besonders bequem im Bus verbracht haben. Noch eine Nacht durchmachen? Naja wir sind ja nicht mehr die jüngsten… 😉 Also beschließen wir gegen Mitternacht nach Potosí zu fahren, wo wir früh um fünf ankommen und völlig übermüdet auf den nächsten Bus nach Sucre warten. Den Karnevalssonntag verschlafen wir komplett.
Montag und Dienstag haben wir noch frei, denn das ganze Land muss sich von dem großen Fest erst einmal erholen… Und so beschließen Tini und ich die zwei Hausberge Sucres, den Cerro Sica Sica und den Cerro Churuquella, zu besteigen.

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Auf dem Weg zum Cerro Sica Sica treffen wir auf ein kleines Straßenfest. Wir tanzen eine Weile mit, müssen uns dann aber verabschieden, denn schließlich warten ja die zwei Berge noch auf uns…
Der Aufstieg wird uns durch verschiedene Musikgruppen, die unter uns in der Stadt spielen, versüßt. Doch am obersten Punkt angekommen, machen wir schnell wieder kehrt, denn der Berg wimmelt nur so von Strommasten und elektrischen Leitungen. Man hat das Gefühl, als würde einem der Kopf platzen.

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Auf dem Weg hin zum zweiten Berg stehen Familien und Jugendliche in ihren Hauseingängen und machen sich einen riesen Spaß draus, uns mit Wasserbomben abzuwerfen. Wir rennen lachend die Straße herunter, was uns aber kaum trocken hält.
Am Fuße Cerro Churuquella machen wir eine gemütliche Pause an der Recoleta und genießen die Aussicht auf die Stadt, währenddessen wir in der Sonne ein bisschen trocknen. Leider hat eine Gruppe Polizisten die gleiche Idee und wir kippen vorsichtshalber das Bier aus, denn es ist in Bolivien verboten, in der Öffentlichkeit zu trinken und wenn man erwischt wird, kommt man erstmal acht Stunden in den Knast. Trotz des strengen Verbots ist Alkoholismus leider eine sehr weit verbreitete Krankheit in Bolivien.

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Als wir vom Cerro Churuquella hinunter spazieren, ist bereits die Dunkelheit eingebrochen. Jedes Mal auf’s Neue fasziniert mich der Blick auf die vielen Lichter, die wie Sterne im großen Meer der Schwärze aufblitzen.

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Neues Jahr – neues Glück

Anfang Februar macht das Musuq endlich wieder auf. Doch gleicht nichts mehr dem alten…
Da die Miete zu teuer geworden ist, ziehen wir um. Nur eine Ecke weiter, doch haben wir nun wesentlich mehr Räumlichkeiten als vorher: Einen großen Speisesaal, eine Speisekammer direkt neben der Küche und ein Cuarto de Trabaja (Arbeitszimmer), in dem wir verschiedene Aktivitäten mit den Kindern durchführen und ein kleines Büro eingerichtet haben.

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Auf Grund von einigen Schwierigkeiten und mangelndem Geld kann abgesehen von Profe Jhenny das alte Personal nicht mehr eingestellt werden. Profe Jhenny und die neue Köchin sind die einzigen, die gegen Bezahlung arbeiten. Das restliche Personal besteht nur aus Freiwilligen. Nichts desto trotz ist das Musuq von 45 auf 65 Kinder gewachsen.
Ich übernehme für den Monat Februar die Leitung. Die neue Verantwortung macht mir einerseits riesen Spaß, doch ist es auch eine sehr große Herausforderung, die mich manchmal ganz schön überfordert. Doch zum Glück erfahre ich viel Unterstützung vor allem von Rolf.
Wenn meine Cousine nicht gerade mit den Bauplänen des neuen Gesundheitszentrums in Villa Armonia beschäftigt ist, kommt sie im Musuq helfen.

Tini und ich helfen in der Küche und schneiden Papaya für den Nachtisch. Wir müssen uns beide zurückhalten, um nicht zu naschen. Wir könnten locker die drei Papayas wegfuttern, die für 65 Kinder gedacht sind… „Ich wäre eine schlechte Köchin“, gibt Tini zu, „ich würde einfach nur fett werden.“


Beim Vesper am Nachmittag, bevor die Kinder nach Hause gehen, werden normalerweise die Reste des Obsts, welche beim Mittagessen übrig geblieben ist, zu Saft oder Limonade verarbeitet. Dazu gibt es gewöhnlich ein Brot dazu für jedes Kind.
Zum Mittag habe ich jedem Kind als Nachtisch eine Lima (Zitrusfrucht) ausgeteilt. Am Nachmittag gibt es Limonada aus den übrig gebliebenen Schalen. Ich bemerke Tinis kritischen Blick, als ich gerade einen Becher davon trinke und meine zu ihr: „Der Refresco ist echt lecker. Hier probier mal!“ und ich strecke ihr meinen Becher entgegen. „Nee danke“, lacht Tini. „Ach komm, ist zwar mit Leitungswasser gemacht, aber da passiert schon nichts“, versuche ich sie zu überreden. „Na das Leitungswasser ist noch das kleinste Übel“, lacht sie und erzählt mir, wie die Limonade gemacht wurde: Die Kinder haben mit ihren mehr dreckigen als sauberen Händchen die Früchte geschält und die Kerne ausgespuckt. Diese Überreste sind dann alle in den Müll geworfen worden und Jhenny hat sich am Nachmittag die Mühe gemacht, alle Schaalen wieder herauszusammeln und ungewaschen in den Mixer geworfen. Wir stellen uns die Situation in Deutschland vor und können nicht mehr aufhören zu lachen… Was für ein Skandal wäre so etwas! Wahrscheinlich stünde das sogar in der Zeitung. Doch auf jeden Fall wäre die Tagesstätte erstmal eine zeitlang unter besonderer hygienischer Aufsicht… „Da ist von jeder Keimsorte ein bisschen was drin“, lache ich und schenke mir noch einen Becher ein. Schließlich muss der Magen ja auch ab und zu ein bisschen herausgefordert werden, sonst würde ihm noch langweilig. 😉

Anfang März bekommen wir endlich eine neue Chefin und zwar eine sehr fähige: Gisela, die ich schon aus dem CEMVA kenne, übernimmt die Leitung des Musuq.
Nach dem etwas chaotischen Februar kommt nun endlich Ordnung ins Haus. Jeden Tag werden verschiedene Aktivitäten festgelegt, an denen die Kinder nach ihren Hausaufgaben teilnehmen: Montag üben die Kinder lesen.

Am Dienstag dürfen sie mit Wasserfarben malen.

Ich gebe mittwochs Nachhilfe in Mathematik und Lena bringt ihnen Grundlegendes in Englisch bei.

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Donnerstags schauen wir mit den Kindern Filme und Freitag dürfen sie sich auf dem nahegelegenen Sportplatz richtig austoben.

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Auch kommt von nun an eine Krankenschwester zu uns ins Projekt, die mit den etwas älteren Kindern über die Pubertät und Sexualität spricht. Die Aufklärungskurse sind von größter Wichtigkeit, denn nur in den seltensten Fällen, werden die Jugendlichen von ihren Eltern aufgeklärt, was leider zu einer sehr hohen Rate an Schwangerschaften vor Abschluss der Schule führt und vor allem für die Mädchen oft ein Ticket in die Armut bedeutet.

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Außerdem können wir endlich wieder mit unserer Frauenfortbildung und den Alphabetisierungskursen für die Mütter fortfahren.

Das Musuq Sunqu läuft Dank Gisela so gut wie noch nie. So schnell kann Chaos in ein funktionierendes Projekt, welches 65 Kinder aus ärmsten Verhältnissen betreut und ihnen ein warmes und reichhaltiges Mittagesssen garantiert, verwandelt werden…

Die jüngste Omi der Welt

Als wir aus Chile zurückkommen, bekomme ich eine Nachricht von Jan, meinem Mitbewohner: „Coco ist schwanger!“ Ich kann es nicht so recht glauben, denn Coco ist eine sehr scheue Katze. Doch tatsächlich… Als wir gegen Mitternacht zu Hause ankommen, ist trotz der schwachen Beleuchtung Cocos dicker Bauch nicht zu übersehen.
Zehn Tage verbringe ich mit ungeduldigem Abtasten ihres Bauches und freue mich jedes Mal, wenn es aus dem Bauch heraus in meine Händen stampft.


Am Abend des 25. Januars ist es endlich soweit!
Ich bin totmüde und will gerade ins Bett gehen. Coco hat es sich wie immer auf meinem Bett gemütlich gemacht. Als ich sie in ihr Nest, das ich ihr eigens für diesen Anlass gebaut habe, heben will, sehe ich auf einmal Blut. Die Wehen treten ein und Coco ist sehr ängstlich. Ich muss sie immer wieder beruhigen. Eine Stunde lang schreit sie immer wieder vor Schmerzen und dann ist es plötzlich soweit: Das erste kleine Kätzchen wird geboren und ich werde mit nur 21 Jahren Großmutter. Natürlich kann ich Coco nicht von ihrem Nest überzeugen und die insgesamt acht Stunden dauernde Geburt der fünf kleinen Kätzchen findet in meinem Bett statt.